Bernhard von Grünberg
berichtet als
Wahlbeobachter
aus der Türkei
Seit vielen
Jahrzehnten befasse ich mich mit den Verhältnissen in
der Türkei, insbesondere mit der kurdischen Frage. Schon
vor circa 40 Jahren habe ich das Kurdische Institut in
Bonn mitbegründet in einer Zeit, in der in Deutschland
von der PKK, wegen der Auseinandersetzungen in der
Türkei, unter anderem Autobahnen besetzt wurden. Das
Kurdische Institut sollte mithelfen, die bis dahin
verbotene Kurdische Sprache durch Publikationen wieder
mit Leben zu füllen. Wir wollten die deutsche Politik
über die Hintergründe des Kundenkonfliktes informieren
in einem breiten Bündnis aus Vertretern der der
deutschen Gesellschaft (Heinrich Böll, ein
Gewerkschaftsvorsitzende, ein Kardinal als Vertreter der
Kirchen sowie einige Bundestagsabgeordnete). Der Verein
war sehr erfolgreich, aber leider beneidet von anderen
kurdischen Organisation. Im Ergebnis wurde der Verein
von diesen übernommen und kurze Zeit später aufgelöst.
Später dann war ich lange im Vorstand von NAVEND - eine
kurdische Organisation mit ähnlichen Zielen. Ich habe
mich in meiner Zeit im Landtag viel mit diesen Fragen
auseinandergesetzt und bin mehrfach in die Türkei
gefahren, vor allem in die Region mit mehrheitlich
kurdischer Bevölkerung. Seit einigen Jahren bin ich
Berater des KulturForum TürkeiDeutschland e.V. in Fragen
des Ausländerrechtes für aus der Türkei geflüchteten
Künstler, Journalisten, Schriftsteller etc. Ich bin zu
Prozessen gefahren z. B nach Istanbul, zu dem von Dogan
Akanli, dem Schriftsteller aus Köln oder den von der
Soziologieprofessorin aus Nizza Pinar Selek. Aber auch
zu Protestveranstaltungen gegen die Inhaftierung der
Schriftstellerin Asli Erdogan, die inzwischen in
Deutschland lebt. Sie alle hatten sich eingesetzt für
die Sache und die Geschichte der Kurden bzw. Armenier,
was in der Türkei hochgefährlich ist. Schon diese
Prozesse haben gezeigt, unter welchen politischen Druck
die Justiz steht und wie willkürlich sie ist. Das
Verfahren gegen Pinar Selek beispielsweise läuft bereits
seit 25 Jahren mit vier Freisprüchen auch vom obersten
Gericht. Gleichwohl lässt die Staatsanwaltschaft nicht
locker und fordert nach wie vor eine Bestrafung wegen
Tatbeständen, die längst auch von anerkannten
Sachverständigen widerlegt sind. Unfassbar ist auch die
Behandlung von Bürgermeistern aus der Kurdenregion, die
der Partei HDP angehören. Sie sind abgesetzt und
kriminalisiert worden, durch absurde Vorwürfe. Ich habe
die Prozesse besucht gegen die letzten beiden frei
gewählten Oberbürgermeister aus Diyabarkir, Frau Kicanak
und Herr Misrati. Sie wurden zu mehrjährigen Haftstrafen
verurteilt. Misrati sollte als Arzt einen PKKKämpfer am
Blinddarm operiert haben, Kicanak eine Wasserleitung in
ein Dorf gelegt haben, auf dessen Friedhof PKK Kämpfer
beerdigt seien. Mit der Absetzung der Oberbürgermeister
wurden in der Regel auch die Stadträte aufgelöst und
Staatskommissare von der Regierung eingesetzt. Dass das
bei der Bevölkerung nicht gut ankommt, ist
nachvollziehbar. Die HDP wird nach wie vor mit hohen
Ergebnissen gewählt. An einer Beobachtung der Wahlen in
der Türkei war ich sehr interessiert, insbesondere wegen
der Frage, ob es in einem Land, in dem die Regierung die
Inhalte der Medien bestimmt und kritische Journalisten
längst eingesperrt oder vertrieben sind, überhaupt
möglich ist, mit demokratischen Mitteln die Regierung
abzuwählen. Diese Frage hat Bedeutung für viele Länder
mit ähnlichen Herrschaftsstrukturen. Eine kritische
Berichterstattung erfolgt über die sozialen Medien, was
aber auch gefährlich werden kann, da zum Beispiel
Strafverfahren wegen angeblicher Beleidigung des
Präsidenten in den sozialen Medien durchaus üblich sind.
Ein gutes Beispiel hierfür ist das Strafverfahren gegen
den populären Oberbürgermeister aus Istanbul Imomoglou,
der bei der Präsidentschaftswahl Erdogan hätte
gefährlich werden können. Wegen des laufenden Prozesses
wegen einer angeblichen Beleidigung der Wahlbehörde, war
es zu gefährlich zu kandidieren, da er bei einer
Verurteilung das Amt nicht hätte antreten können. In
Katalonien war ich schon mehrfach Wahlbeobachter und von
dort aus wurde vorgeschlagen, ob ich nicht in einer
Wahlbeobachtungsgruppe der kurdischen HDP teilnehmen
könnte, die nach umfangreichen Verhaftungen ihres
Führungspersonals, jetzt vorsorglich zur Wahl kandidiert
unter dem Namen einer grün-linken Liste, um einem
Verbotsantrag zuvor zu kommen. Da der Parteivorsitzende
meiner Partei, der SPD, Lars Klingbeil kürzlich die HDP
besucht und betont hatte, dass nicht nur die
kemalistische CHP, sondern auch die HDP Partner der SPD
seien, war es mir wichtig, auch als SPD Politiker dort
zu sein und nicht nur Vertreter der Partei die Linke,
die sich verdientermaßen schon lange um die Lage der HDP
kümmert. Diese Feststellung von Lars Klingbeil war
wichtig, um dabei zu helfen, das seit langem gestörte
Verhältnis der Funktionäre der CHP zu der Kurdenfrage zu
überwinden. Die HDP hatte zu dieser Wahl keinen eigenen
Präsidentschaftskandidat aufgestellt, sondern empfohlen
die Kandidatur von dem Vorsitzenden der CHP Kilicdaroglu
zu unterstützen. Nachdem ich die Einladung bekommen
hatte, bin ich nach Diyarbakir geflogen. Am
Freitagmittag habe ich dann ein Wahlkampfeinsatz der HDP
begleitet und saß in einem Kleintransporter, der mit
ohrenbetäubender kurdischer Musik hupend durch die Stadt
fuhr. Wir sollten aus dem Fenster heraus Fahnen der HDP
schwenken und diese auch an Passanten und Autofahrer
verteilen, die dann auch damit schwenken konnten. Für
mich eine ungewöhnliche Wahlkampfaktion, die erinnerte
an die fröhlichen Autokorsos bei uns nach erfolgreichen
Fußballspielen oder als Höhepunkt einer Hochzeitsfeier
mit Hupkonzert. Am nächsten Tag, dem Samstag, war eine
Wahlkampfveranstaltung mit ca. 50.000 Besuchern. Die
Einstimmung für das Publikum war wieder mit Musik,
zahlreichen kurdischen Kreistänzen, in denen Männer und
Frauen zusammen tanzen und die eine gute Stimmung
verbreiten. Daraus könnten wir in Deutschland bei
unseren viel zu nüchternen und ernsten Veranstaltung was
lernen. Danach sind die ca. 40 Wahlbeobachter aus
Frankreich, der Schweiz, Holland, Dänemark, Italien und
Deutschland in die Regionen der Osttürkei gefahren, um
dort mit Juristen und Dolmetschern die einzelnen
Wahllokale zu besuchen. Da das Auto, das uns zu unserem
Einsatzort Bingöl fahren sollte mit vier Deutschen schon
voll war, sollte ich in eine andere Region fahren. Den
Organisatoren der HDP war es aber wichtig, dass ich dort
am Abend an einer Diskussion mit verschiedenen NGO‘s
teilnehme von der Juristen- und der Lehrervereinigung,
den Architekten, dem Frauenverband und natürlich den
Kandidaten für die Parlamentswahl. Ich bin dann mit
einem Fahrer, der ohne zu unterbrechen rauchte und
telefonierte in höchster Geschwindigkeit in das 150 km
entfernte Bingöl gerast um noch etwas von der Diskussion
mitzubekommen. Viele der Teilnehmenden hatten schon im
Gefängnis in völlig überfüllten Zellen gesessen, wurden
unter Folter zu irgendwelchen Aussagen gepresst und
haben unter dem verrotteten Polizei- und Justizsystem
gelitten, von dem ich ja schon viel erfahren hatte.
Sollte es tatsächlich zu einem politischen Wechsel in
der Türkei kommen, muss es zuerst um die
Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit gehen. Es muss
auch für Europa eine wesentliche Aufgabe sein, dabei zu
helfen. Am Wahlsonntag haben wir dann zwei
Beobachtergruppen gebildet für Bingöl und die
umliegenden Dörfer. Bingöl ist mit ca. 300.000
Einwohnern ein bisschen kleiner als Bonn. Trotz der
überwiegend kurdischen Bevölkerung- jedenfalls optisch-
eine konservative Gesellschaft mit vielen Kopftüchern
und häufigen Verschleierungen. Aber das mag ja täuschen.
Der frühere linke Bundestagsabgeordnete mit einem
Wahlkreis in Koblenz Gert Winkelmeier und ich haben
zusammen mit einem Rechtsanwalt und einem Dolmetscher
ca. 15 Schulen mit ca. 40 Wahlräumen besucht.
Ungewöhnlich für uns war, dass die Kandidaten der
Parteien die Wahlräume besuchten und jedem der
Wahlhelfer die Hand drückte. Auch uns gegenüber waren
sie sehr freundlich und aufgeschlossen und nicht
erstaunt darüber, dass wir Wahlbeobachter aus dem fernen
Europa waren. Ungewöhnlich für uns auch die
Zusammensetzung der Wahlhelfer. Die größeren Parteien-
also auch die Opposition - stellen die Beteiligten. Das
ist sicher von Vorteil, wenn es zu
Manipulationsversuchen bei Stimmabgabe und Auszählung
kommen sollte. Die Wählerverzeichnisse hängen vor den
Wahlräumen, vielleicht aus der Sicht des Datenschutzes
problematisch, aber durchaus nützlich, dass Nachbarn
überprüfen können, dass die Personen existieren und noch
leben. Die Wähler müssen im Wahlverzeichnis dann ihren
Namen durch Unterschrift beglaubigen, nachdem sie ihre
Wahlbenachrichtigung (die durch einen Stempel ungültig
gemacht wird) und ihren Ausweis vorlegen mussten. Es
gibt in den Räumen zwei nicht einsehbare Kabinen.
Gewählt wird mit einem Stempel, mit dem der jeweilige
Kandidat und seine Partei sicher bezeichnet werden kann,
damit nicht durch Bleistifte oder Kugelschreiber ein
Streit darüber entsteht, wo das Kreuz gemacht wurde. Für
Sehbehinderte gibt es eine Schablone, mit der die
richtige Stelle für den Stempel erfühlt werden kann. Bei
der Auszählung gibt es für jede Partei und jeden
Kandidaten eine Zahlenreihe, in der die Ergebniszahl
angekreuzt wird, um nicht durch Zahlendreher oder unklar
geschriebene Zahlen ein falsches Ergebnis festzuhalten.
Alle Mitglieder des Wahlvorstandes müssen die Ergebnisse
durch Unterschrift bestätigen, so dass alle
Parteivertreter sich gegenseitig kontrollieren können.
Die Ergebnisse werden zunächst per Anruf und dann per
geschlossenem Brief ins Rathaus weitergemeldet. Schon am
frühen Nachmittag lag die Wahlbeteiligung bei
durchschnittlich 75 %. Es gibt in der Türkei eine
Wahlpflicht. Wer nicht wählt, soll aber keinen Ärger
bekommen, so wurde mir gesagt. Mir sind keine
Unkorrektheiten aufgefallen. Das System ist auch so
strukturiert, dass Wahlmanipulationen sehr schwer sein
dürften. Am Nachmittag waren wir in dem Dorf, in dem
unser Dolmetscher mit seiner Familie lebt. Auch dort
haben wir das Wahllokal besucht. Im ländlichen Raum
sollen die korrekten Wahlmöglichkeiten erschwert sein.
Dort kennt man die politischen Einstellungen der Wähler.
Dort soll es auch schwierig sein, die Wahlvorstände aus
allen Parteien besetzen zu können. Uns wurde eine Liste
von ca. 10 Dörfern genannt, in denen die Wahlvorstände
nicht ordnungsmäßig besetzt waren. Wir hatten keine Zeit
und Möglichkeiten, das zu überprüfen. Wir sind dann von
der Familie unseres Dolmetschers nach Hause eingeladen
worden mit einem herrlichen, ländlichen und
selbstgemachtem Essen und einer tragischen
Familiengeschichte. Der Bruder des Vaters war bei der
PKK. Der Vater ist ins Gefängnis gekommen und dort
gefoltert worden, um Näheres über den Bruder und seine
Freunde herauszubekommen. Er war lange im Gefängnis, der
Bruder wurde getötet. Der Sohn, also unser Dolmetscher,
ist als Jugendlicher nach Deutschland geflohen, kam dort
in falschen Kreise, wurde zum Drogenhandel verführt und
geschnappt. Nach zweieinhalb Jahren ist er vorzeitig in
die Türkei abgeschoben worden und hat jetzt eine
Wiedereinreisesperre bis 2034. Er würde gern seine
Deutschkenntnisse vertiefen. Es fehlt aber, wie so oft
in Staaten mit reichlich deutschsprechender Bevölkerung,
an Büchern. Das ist mir seit langem ein Ärgernis in der
auswärtigen Kulturpolitik. Zurück in Bingöl haben wir im
Parteibüro der HDP die ersten Ergebnisse der Wahl
angesehen. Vom Anfang an gab es einen Abstand von ca. 5
% zwischen den Kandidaten. Es gab ein Auf und Ab je nach
Fernsehsender. Wir sind dann zurück nach Diyabakir
gefahren, um den Rest der Übertragung anzusehen. Das
Ergebnis: Erdogan 49,4% , Kilicdaroglu 45%, Ogan 5,2%.
Es gibt in zwei Wochen also eine Stichwahl. Hier wird
voraussichtlich aber Erdogan gewinnen, weil z.B. die
Stimmen von Ogan, der Kandidat einer sehr konservativen
Partei ehr zu Erdogan wechseln werden. Aber leider kenne
ich mich zu wenig in der türkischen Seele aus, um das
richtig vorherzusagen. Man wird sehen, wie die
voraussichtlich letzten fünf Jahre der Präsidentschaft
Erdogans sich entwickeln. Noch fanatischer,
kriegslüstern und unterdrückend oder auf dem Weg der
Aussöhnung, die Chance ergreifend für eine
Wiedereinführung der Rechtstaatlichkeit. Er hat die
Chance in die Geschichte der Türkei einzugehen als
jemand, der dieses gespaltene Volk wieder zusammenführen
könnte. Aber vielleicht sind das wirklich nur Träume wie
über die Zukunft der Türkei ohne Erdogan. |