Tyrannenmord durch
Frauenhand
Verdis “Attila” in der
Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Zur
Startseite
Foto: Thilo Beu
Als
Sympathieträger treten sie allesamt nicht in
Erscheinung. Allen voran Attila, König der Hunnen
(kraftvoll: Franz Hawlata), der sich nach der Zerstörung
Aquileias machthungrig anschickt, das gesamte Erbe des
weströmischen Reiches an sich zu reißen. Als ähnlich
skrupellos erweist sich der ruhmsüchtige römische
Feldherr Ezio (ausdrucksstark: Ivan Krutikov), der durch
Verrat am eigenen Volk mit dem Tyrannen eine Achse des
Bösen zu schmieden beabsichtigt: „Nimm dir das
Universum, aber überlasse Italien mir!“ lässt er diesen
in einem furiosen Bass-Bariton-Duett wissen, allerdings
ohne Erfolg.
Ebenso wenig taugt Odabella, die Tochter des von Attila
ermordeten Fürsten von Aquileia (bravourös:Yannick-Muriel
Noah) zur Identifikationsfigur. Angetrieben von
blindwütigem Rachedurst findet sie ihr biblisches
Vorbild in Judith, die sich einst das Vertrauen des
Holofernes erschlich und ihm dann kaltblütig die
Messerspitze an den Hals setzte. Verstörend auch Foresto,
Odabellas Geliebter (leidenschaftlich: George Oniani),
der ihre listige Annäherung an Attila nicht durchschaut
und von zerstörerischer Eifersucht zerfressen wird.
Pathos
und Destruktion
Aber
waren es nicht gerade diese menschlichen
Unzulänglichkeiten, die das Libretto von Temistocle
Solera und Francesco Maria Piave für Verdi so attraktiv
machten? Dazu sicherlich der während Verdis früher
Schaffensphase einsetzende italienische Einigungsprozess
des „Risorgimento“, dem sich der Komponist
offensichtlich mit zahlreichen pathetischen Einschüben
musikalisch verpflichtet wusste. Entsprechend wurde das
Werk im Sinne der Aussage „Überlasse Italien mir“
schnell erhoben in den Rang einer pathetischen
Nationaloper , deren politische Wirkung im weiteren
Verlauf allerdings immer weiter verblasste.
So
tun sich moderne Inszenierungen schwer, der Oper
jenseits der psychologischen Ausdeutung auch aktuelle
politische Bezüge zu entlocken. Dietrich W. Hilsdorf ist
ihnen in seiner Bonner Inszenierung auf der Spur. Er
findet sie, ohne konkrete Krisengebiete zu benennen, in
dem anhaltenden Kreislauf von Machtversessenheit, Terror
und Krieg, der sich wie ein roter Faden bis in die
Neuzeit hindurch zieht. Dabei dominieren die Grautöne
einer hoch aufragenden Häuserruine (Bühne: Dieter
Richter), die immer wieder neu erinnert an die
Grausamkeit der Zerstörung.
Musikalische Inspiration
Nur
selten lockert sich die Stimmung durch Zeichen der
Hoffnung. Vor allem dann, wenn durch helle Farben
(Licht: Thomas Roscher) mit der Flucht der Bewohner
Aquileias auf die Laguneninseln der Gründungsmythos
Venedigs in Szene gesetzt wird. Humorvoll und kurios
wird es gar, wenn Leo I. als Bischof von Rom (Leonard
Bernad) voll kostümiert (Kostüme: Renate Schmitzer)
anlässlich einer ausgeflippten Prozession nicht
sonderlich standesgemäß in einem kleinen
Elektro-Papamobil vorgefahren wird.
Als
Hauptfaktor für diese anregende Produktion erweist sich
die bewährte Zusammenarbeit Hilsdorfs mit dem
musikalischen Leiter der Produktion,Will Humburg, der
aus dem Graben heraus mit kraftvollen und zugleich
sensiblen Impulsen dem Werk Verdis bis in die
klanglichen Details hinein gerecht wird. Mit der Folge,
dass er nicht nur die Gesangssolisten bis in die
Nebenrollen hinein (Jonghoon You als Uldino, Magdalena
Rahn als Martha) sondern auch den Chor (Einstudierung:
Marco Medved) durchweg zu Höchstleistungen inspiriert.
Magische Musikmomente
Auch
das Beethoven Orchester Bonn lässt unter Humburgs
Leitung magische Musikmomente entstehen, die den
Opernabend in eine musikalische Sternstunde verwandeln.
Derart angetan reagiert das Publikum mit frenetischem
Beifall. Und verleiht damit seiner Hoffnung Ausdruck,
dass diese überaus fruchtbare Zusammenarbeit auch in
Zukunft ihre Fortsetzung finde.
Weitere Aufführungen: 19., 30. März, 12. Mai, 3., 17.,
28. Juni 2017
Rachefantasien und
Liebesschwüre
“Giulio Cesare in Egitto”
in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: Thilo Beu
Julius Caesar auf Liebespfaden? Sonst eher vertraut mit
Kriegslist und Schlachtengetümmel, verhilft ihm Georg
Friedrich Händels Musik in „Giulio Caesare in Egitto“ zu
einem Liebesgezwitscher, das in Kaskaden von Koloraturen
leidenschaftlich aus ihm hervor bricht. In dessen Rolle
Terry Wey, der als Countertenor die überbordende
Stimmungslage des verliebten Feldherrn virtuos
durchbuchstabiert.
Kein
Wunder, hat er es doch zu tun mit Cleopatra (bezaubernd
und mitreißend: Sumi Hwang), die entsprechend dem
Libretto von Nicola Francesco Haym ihr Liebeshandwerk
vortrefflich versteht: „Alles kann eine schöne Frau
erreichen, wenn sie verliebt spricht und die Augen
bewegt.“ Derart ausgerüstet mit den Waffen einer Frau,
sollte einem schnellen Sieg des Liebesgottes Amor nichts
mehr im Wege stehen.
Vielfältige Gefühlsvariationen
Doch
noch knistert es im Umfeld der sich anbahnenden
Liebesbeziehung, wobei Verrat und Herrschsucht, Hass und
Missgunst in vielfältigen Variationen immer neue
Verbindungen eingehen. Warum muss auch der ägyptische
Feldherr Achillas (souverän: Giorgos Kanaris) nach
seinem Sieg über Pompeius ausgerechnet dessen Kopf als
Siegestrophäe abliefern? Und ohne Schonfrist die Liebe
von dessen Ehefrau Cornelia (leidenschaftlich: Ceri
Williamss) einfordern?
Statt
der erhofften Zuneigung sieht sichAchillas jedoch nur
den Hasstiraden Cornelias ausgesetzt, in die auch Sextus
Pompeius, ihr Sohn (temperamentvoll: Katrin Leidig)
einstimmt. Beide fühlen sich vom Schicksal verraten und
treiben ihre Hasseskapaden immer weiter auf die Spitze.
So muss auch der Vermittlungsversuch von Ptolemäus
scheitern (als klangvoller Countertenor: Owen Willetts),
der es schließlich listenreich selbst auf Cornelias
Sympathien abgesehen hat.
Schwelgerische Arie
Und
natürlich auf den ägyptischen Thron, den auch Cleopatra
für sich beansprucht. Daraus entsteht eine
machtpolitische Gemengelage, innerhalb derer selbst
Caesar um sein Leben fürchten muss. Historisch oder
nicht: Bei der hinreißenden Musik Händels verzeiht man
dem Librettisten alles. Selbst einen wagemutigen
Fluchtversuch des römischen Feldherrn, der sich in
Geschichtsbüchern in dieser Version sicherlich nicht
wiederfindet.
Als
einer der musikalischen Höhepunkte der Oper gestaltet
sich der Empfang Caesars im Palast der Cleopatra. Dabei
gewinnt das Bühnenbild (Jürgen Wegner und Friedel Grass)
an räumlicher Weite. Hiermit hebt es sich wohltuend ab
von den auf die Bühnenrückwand projizierten Porträts
jener Epoche. In dieser Atmosphäre versteigt er sich
unter dem Eindruck galanter höfischer Klänge in einer
schwelgerisch vorgetragenen Arie zu dem Urteil, nicht
einmal Zeus im Olymp besitze eine derart schön klingende
Musik wie diese.
Frenetischer Schlussapplaus
Eine
Behauptung, zu der sich auch das Publikum in seinem
frenetischen Schlussapplaus bekennt. Und in den es neben
der durchweg überzeugenden Leistung der Gesangssolisten
natürlich auch das Beethoven Orchester Bonn einbezieht.
Unter der Leitung von Wolfgang Katschner verleiht es
einer der schönsten Händel-Opern in konzertanter
Aufführung einen wunderbaren Glanz.
Zudem
trägt es in perfekter Abstimmung mit den Gesangssolisten
dazu bei, dass die vom Libretto vorgegebene Dramatik
zwischen Rachephantasien und Liebesschwüren bis zum
Schlussakkord ausgekostet wird. Damit fügt sich „Giulio
Caesare in Egitto“ mühelos ein in die Reihe gelungener
Händel-Inszenierungen an der Oper Bonn.
Weitere Aufführungen: 02. März und 15. April 2017.
Der bestrafte Wüstling
„Don Giovanni” in der
Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: Thilo Beu
Er
kriegte sie alle. Beneidenswert? Nicht so für Lorenzo da
Ponte, der Don Giovanni, den Titelhelden seines
Librettos, an dessen letztem Lebenstage über eine rote
Linie stolpern lässt, die dieser mit dem Mord am Komtur
leichtfertig überschreitet. Ein dramatischer
Handlungsstrang großer Gefühle, noch überhöht von
Mozarts meisterlicher Musik, die stets gewürzt mit
humorvoller Spritzigkeit, schließlich umschlägt ins
zerstörerisch Dämonische.
Ende
eines Zeitalters
Kein
Zweifel: Im „Don Giovanni“ geht es nicht nur um
individuelle Unmoral und deren Bestrafung. Wie im
„Figaro“ wird auch hier am Vorabend der Französischen
Revolution in gedanklicher Vorwegnahme das
absolutistisch-feudalistische Herrschaftssystem bereits
versuchsweise zu Grabe getragen. Hervorragend Giorgos
Kanaris in seiner Rolle als Don Giovanni, der als
gestandenes Mannsbild ohne zu zögern die Privilegien
seiner sozialen Position ausnutzt, um schamlos Beute zu
machen.
Prototypisch wie der Herr verhält sich auch dessen
Diener Leporello (Martin Tzonev). In Atem beraubendem
Zwiespalt ist er hin und her gerissen zwischen absolutem
Gehorsam und unverhohlener Schlitzohrigkeit. In diesem
wundervoll bis an die Ränder ausgestalteten
Spannungsfeld präsentiert er nicht ohne klammheimliche
Freude seinen berüchtigten „Leporello“ . Sicherlich ist
er sich dabei der Pikanterie seines nicht gerade
einfühlsamen Vorgehens gegenüber Donna Elvira bewusst.
Penetranten Hammerschlägen gleich ertönt sein „Mille tre“.
Eine stattliche Anzahl, auf das es sein Herr mit seinen
amourösen Erfolgen allein bei der Frauenwelt Spaniens
gebracht hat.
Erfolglose Missionierung
Neben
diesen offensichtlichen Vorzügen der Inszenierung von
Jakob Peters-Messer ist es die empathisch präzise
Charakterisierung der unterschiedlichen Frauenrollen,
die im Stück angelegt sind. Vor allem kommt Don Giovanni
die in ihren Rachegelüsten unerbittliche Donna Anna (Sumi
Hwang) von Anfang an in die Quere. In ihrer ausgeprägten
Vaterbindung an den ermordeten Komtur (Leonard Bernad)
widersteht sie nicht nur bravourös den
Verführungskünsten Don Giovannis. Vielmehr spannt sie
mit ihren zumindest vorläufigen Zurückweisungen auch
noch Don Ottavio (Christian Georg) auf die Folter, der
ihr in aufrichtiger Liebe zugetan ist.
Demgegenüber steht Donna Elvira (Susanne Blattert), die
es als Don Giovannis einstige Ehefrau besser wissen
müsste. In immer neuen erwartungsvollen
Annäherungsversuchen versucht sie, aus dem egoistischen
Lebemann doch noch einen moralischen Ehrenmann zu
machen. Doch ihr mit hohen Emotionen vorgetragener
Missionierungsversuch bleibt erfolglos, ohne auch nur
den geringsten moralischen Wandels in ihm auszulösen.
Fantasievoller Rahmen
Wie
anders dagegen Zerlina (Kathrin Leidig), die selbst an
ihrem Hochzeitstag den Verführungskünsten Don Giovannis
gegenüber nicht abgeneigt ist. Treibt sie die Lust am
sexuellen Abenteuer oder der Ehrgeiz zum sozialen
Aufstieg, den sie dem zu erwartenden Alltag einer
Bäuerin vorzuziehen scheint? Wohltuend dagegen ist die
eindeutige Reaktion ihres Bräutigams Masetto (Daniel
Pannermayr), der für den hochrangigen Eindringling in
sein Revier eine ungewöhnlich harsche und dazu
selbstbewusste Antwort bereit hält. Auch sie sind beide
Teil einer durchweg hervorragenden gesanglichen
Gesamtleistung.
Als
spannend erweist sich zudem, wie die Einheiten des
Bühnenbildes (Markus Meyer) in Form einer nicht enden
wollenden Wendeltreppe zu immer neuen Kombinationen
zusammen gefügt werden. Kombiniert mit der Lichtregie
(Max Karbe) ist hier in der Tat ein fantasievoller
Rahmen gelungen, in den sich die ständig wechselnden
Handlungsstränge jeweils nahtlos einfügen. Der
frenetisch vorgetragene Schlussapplaus gilt natürlich
auch dem Chor des Theater Bonn (Choreinstudierung: Marco
Medved) sowie dem Beethoven Orchester Bonn, das das
unter der Leitung von Stephan Zilias den „Don Giovanni“
einfühlsam wieder auferstehen lässt.
Weitere Aufführungen:
16. Feb; 5., 23. März 2017
Facetten einer
Aufsteigerin
“Evita” in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: Thilo Beu
Wer
ist Evita? Mit dieser Frage präsentiert sich das
Erfolgsmusical von Andrew Lloyd Webber in der Oper Bonn.
Die heimische deutschsprachige Inszenierung von Gil
Mehmert folgt dabei der Originalproduktion von Harold
Prince, indem sie den in der Hauptperson Evita Peron
(Bettina Mönch) angelegten Facettenreichtum bis hin zur
Widersprüchlichkeit überzeugend heraus arbeitet.
Grande
Dame und Mutter
Ist
sie die Grande Dame, als die sie sich in gekonntem
Auftritt mit treffsicherem Instinkt präsentiert? In
einer Symphonie aus persönlichem Aussehen und
öffentlichem Auftreten? Dabei stets elegant gekleidet
bis hin zur zauberhaften weißen Robe (Kostüm: Adelheid
Pohlmann), in der ihr auch die Herzen des Publikums
umgehend zufliegen.
Oder
ist sie eher die fürsorgliche Mutter des argentinischen
Volkes, die mit ihren Schwüren, Beteuerungen und
Versprechen auf der Klaviatur der öffentlichen Gefühle
unglaublich manipulativ zu spielen vermag? Der es bei
ihrem Einsatz sogar gelingt, mit Hilfe ihres Mannes Juan
Peron (Mark Weigel) dem in die Krise geratenen Staat zu
neuer Stabilität zu verhelfen. Und die darüber hinaus
mit großer Geste eine Stiftung für sozial Schwache ins
Leben ruft, die als Dankesbekundung nichts weiter tun
sollen, als sie inständig zu lieben.
Karrieresprung
Damit
diese Art der Selbstdarstellung nicht alle anderen
Sichtweisen überlagert, haben Text (Tim Rice) und
Inszenierung die klar konturierte Person des Che (David
Jakobs) als Widerpart an Evitas Seite gestellt. Mit
seiner sozialistischen Sichtweise nach dem Muster Che
Guevaras lenkt er die Blicke hinter die faschistischen
Kulissen der argentinischen Gesellschaft und lässt
Evitas auf effektvolle Selbstdarstellung angelegte Schau
zuweilen auf empfindliche Weise platzen.
War
sie, so legt sich die Vermutung nahe, nicht im Grunde
ihres Herzens die egoistische Aufsteigerin aus der
argentinischen Provinz, die in der Metropole Buenos
Aires als „Pretty Woman“ zum Karrieresprung ansetzte?
Und die sich dann kühl kalkulierend dem viel
versprechenden Offizier Juan Peron in die Arme warf?
Unglaublich realistisch bringt es die Szene auf den
Punkt, in der Evita dessen Geliebte (Eva Löser) auf
unwirsche Weise aus dem vorgewärmten Bett hinaus wirft.
Zusammemprall der Antagonisten
Oder
überwiegt in der Kritik eher die Skrupellosigkeit im
sozialen Bereich? Indem sie die für ihre Stiftung
rigoros eingetriebenen Spendengelder teilweise
zweckentfremdet, indem sie sie für den eigenen Bedarf
nutzt oder auf Schweizer Bankkonten deponiert.
Unglaublich realistisch auch hierbei die Szene, in der
sie die Damen der argentinischen Oberschicht in aller
Deutlichkeit mit ihrer Forderung brüskiert, ihre
Wertgegenstände in die Stiftung einzubringen.
Einer
der Höhepunkte der Inszenierung wird erreicht, als die
beiden Antagonisten aufeinander prallen und sich
ungeschminkt mit ihrer jeweiligen Wahrheit
konfrontieren. Zur Sprache kommt dabei natürlich auch
„das Böse“, das die Welt regiert. Wer bisher in „Evita“
eine argentinische Love Story vermutete, wird hier auf
dramatische Weise eines Besseren belehrt.
Heilige
und Vamp
Wie
wenig moralisch es in dieser Welt zugeht, zeigt sich
auch in dem spannenden Machtpoker der Offiziere. Sie
veranstalten ihren Aufstieg nach ganz oben als eine
zunächst belustigende „Reise nach Jerusalem“, wobei sie
sich gegenseitig die Sitzgelegenheiten wegziehen. Ein
Spiel, bei dem Peron schließlich übrig bleibt, weil er
sich mit einem rabiaten Trick seines letzten
Mitbewerbers entledigt , sich damit aber als Schuft
entlarvt.
Evita
hingegen endet in der Wahrnehmung der Inszenierung halb
als Heilige und halb als verführerischer Vamp. Und nie
besteht der geringste Zweifel daran, dass
Evita-Darstellerin Bettina Mönch nicht ihrer Rolle in
grandioser Perfektion gerecht würde. So erweist sich „Evita“
im ausverkauften Haus als ein Riesenerfolg. Daran haben
auch der Chor sowie der Kinder- und Jugendchor des
Theater Bonn, die auf der Bühne platzierten
Instrumentalisten unter der Leitung von Jürgen Grimm
sowie das Tango-Tanzensemble ihren erheblichen Anteil.
Zahlreiche weitere Aufführungen bis Ende März 2017
Zwischen Heldentum und
Rechtsbruch
“Terror” im Bonner
Contra-Kreis-Theater
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Nicht
jeder, der ein voll besetztes Flugzeug abschießt, ist
notwendigerweise ein Terrorist. Diese These vertritt der
Erfolgsautor Ferdinand von Schirach in seinem
Theaterstück „Terror“. Denn der wahre Terrorist befindet
sich in der Passagiermaschine auf ihrem Flug von Berlin
nach München. Er wird getrieben von der Absicht,
innerhalb der nächsten dreiviertel Stunde die Maschine
in der mit 70.000 Zuschauern besetzten Allianz-Arena zum
Absturz zu bringen.
Welche andere Wahl hätte also der Luftwaffenpilot Lars
Koch (Bernard Niemeyer), als das zu einer fliegenden
Bombe umfunktioniere Passagierflugzeug mit seiner
Sidewinder-Rakete abzuschießen? Oder aber den
Terroristen sein furchtbares Zerstörungswerk vollenden
zu lassen. Denn dass der internationale Terrorismus
inzwischen auch in Deutschland jederzeit seine hässliche
Fratze zu zeigen bereit ist, daran zweifelt der Pilot
nicht einen Augenblick.
Foto:
Contra-Kreis-Theater
Rechtsphilosophisches Labyrinth
Das
Bonner Contra-Kreis-Theater hat sich in einer
Co-Produktion mit Junges Theater Bonn unter der Regie
von Lajos Wenzel dieser Thematik angenommen. Und niemand
aus dem Publikum scheint zunächst zu ahnen, in welches
rechtsphilosophische Labyrinth unterschiedlicher
Straftheorien der Autor ihn für die nächsten zweieinhalb
Stunden entführen wird. Nie intellektuell überladen,
dafür jedoch jederzeit informativ und spannend im
Detail.
Besonders wenn sich herausstellt, dass am Ende des
Strafprozesses gegen den angeklagten Kampfflieger das
Laienrichter-Publikum über Schuldspruch oder Freispruch
selbst zu entscheiden hat. Der äußere Rahmen eines
Gerichtsverfahrens ist dabei perfekt nachgestellt
(Bühne: Thomas Pfau), sodass der Austausch der
kontroversen Argumente beginnen kann.
Die
Würde des Menschen
Noch
hat der „gesunde Menschenverstand“ die Lufthoheit. Denn
warum sollte man einen Helden verurteilen, der zwar164
ohnehin dem Tod geweihte Passagiere opferte, dafür aber
im Gegenzug 70.000 unschuldige Zuschauer vor der zu
erwartenden Katastrophe rettete. Nicht ganz so einfach
sieht es Staatsanwältin Nelson (Kerstin Gähte). Sie hält
sich an die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland,
in der die „Würde des Menschen“ als immerwährendes
Rechtsgut festgeschrieben ist. Eine Einsicht, die auch
das Bundesverfassungsgericht teilt, sodass
Menschenleben, egal welcher Größenordnung, niemals
gegeneinander aufgewogen werden dürften.
Übergesetzlicher Notstand
Engagiert hält Verteidiger Biegler (Volker Risch)
dagegen. Er ist davon überzeugt, dass das Prinzip der
Menschenwürde nicht über die realen Menschenleben
gestellt werden darf. Die Welt mit ihren Problemen sei
kein Seminar für Rechtsstudenten. Denn schließlich gehe
es darum, nicht die Feinde der Rechtsordnung durch
Unterlassung zu schützen, sondern sie notfalls auch mit
Gewalt zu bekämpfen.
Verstieß also der Angeklagte gegen die Verfassung und
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, sodass er nun
als schuldig zu verurteilen wäre? Oder ist er der wahre
Held, weil er im übergesetzlichen Notstand seinem
Gewissen Folge leistete und die vielen Stadionbesucher
rettete? Die Sache spitzt sich immer stärker zu, bis
schließlich auch das Publikum in den Vorgang der
gerechten Urteilsfindung einbezogen wird.
Klarheit in der Sache
Es
ist förmlich zu spüren, wie die vielen unerwartet ins
Schöffenamt berufenen Laienrichter innerlich mit sich zu
Rate gehen. Und schließlich noch die Pause zu
Diskussionen nutzen, um sich in der Sache Klarheit zu
verschaffen. Denn immerhin geht es um „schuldig“ oder
„nicht schuldig“ mit allen daraus folgenden
strafrechtlichen Konsequenzen. So wird das Publikum in
seinem Abstimmungsverhalten zur letzten Instanz, der
sich schließlich auch der Vorsitzende (Bernhard Dübe)
beugen muss.
Das
Urteil fällt, zumindest an diesem Abend, eindeutig aus
und der Richter begründet es in allen Details. Was wäre
jedoch, wenn das Publikum ein anderes
Mehrheitsverhältnis herbei geführt hätte? Niemand, der
Ferdinand von Schirachs Werk näher kennt, würde die
Möglichkeit ausschließen, dass er auch für diesen Fall
eine richterliche Begründung parat hätte. Insgesamt ein
emotional aufgeladenes und doch durch und durch
rationales Stück, dessen Spannungsbogen bis zur
Urteilsfindung anhält.
In
weiteren Rollen: Thomas Kahle, Katharina Felschen,
Karina Kirkuc und Benedikt Fiebig.
www.contra-kreis-theater.de
Festkonzert zur
Saisoneröffnung
Das Gürzenich-Orchester
in der Kölner Philharmonie
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto:
© Holger Talinski
Die
Eröffnung der Kölner Philharmonie vor dreißig Jahren war
zweifellos ein Eckdatum der neueren Kölner
Musikgeschichte. Für das Gürzenich-Orchester Köln
bedeutete der Umzug vom alt-ehrwürdigen Gürzenich-Saal
in die moderne Konzert-Arena am Dom in der Tat einen
räumlichen Quantensprung, der den renommierten
Klangkörper seither musikalisch beflügelt. Und doch
führen viele Spuren seiner Erfolgsgeschichte zurück zur
einstigen Wirkungsstätte.
Denn
schon dort erwies sich das Gürzenich-Orchester stets als
„ein lebendiger, für Neues aufgeschlossener Apparat“. So
der neue Dirigent des Orchesters Francois-Xavier Roth ,
zugleich Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Er hat es
sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte des
Traditionsorchesters musikalisch neu zu erzählen. Das
Festkonzert in der Philharmonie anlässlich der
diesjährigen Saisoneröffnung bietet ihm dazu eine
besondere Gelegenheit.
Erstaufführung und Uraufführung
So
stellt das Festprogramm mit Bela Bartoks „Konzert für
Violne und Orchester Nr.2“ und Gustav Mahlers „Sinfonie
Nr. 5“ zwei Werke nebeneinander, „die verschiedene
Sichtweisen von Musik“ zum Ausdruck bringen sollen, für
die das Orchester stets aufgeschlossen war. Hinzu kommt,
dass das Violinkonzert von Bela Bartok mit dem
Gürzenich-Orchester im Jahr 1947seine deutsche
Erstaufführung erlebte. Und die Mahler-Sinfonie unter
der Leitung des Komponisten mit demselben Orchester im
Jahr 1904 ihre Uraufführung feierte. Auf die
Neuerzählung beider Werke in der ausverkauften Kölner
Philharmonie durfte man demnach gespannt sein.
Im
dreisätzigen Violinkonzert, so verfestigt sich der
Eindruck, kommt es dem Dirigenten besonders darauf an,
stets neu die Aura aufblitzen zu lassen, die das Werk
jenseits aller technischen Herausforderungen bereit
hält. Und dabei stets die Balance herzustellen zwischen
dem Soloinstrument und dem mit starken Blechbläsern
ausgestatteten Orchester. Eine Aufgabe, der sich auch
Michael Barenboim als Solist des Abends bravourös
stellt. Einfühlsam und zupackend zugleich zeigt er
Präsenz in den virtuos konzipierten Ecksätzen. Und
überzeugt zugleich, besonders im dramatisch bis lyrisch
gehaltenen Mittelsatz, durch einen zauberhaft
anrührenden Dialog mit der Harfe.
Wucht
der Klänge
Mit
dem langsamen Satz aus der Solosonate von Bela Bartok
bedankt sich der Solist für den frenetischen Beifall des
Publikums. Und gibt damit ein Musterbeispiel für die
Feinnervigkeit seines Spiels. Dabei entfaltet er das in
der Lautstärke vorherrschende Piano zu einem Flüstern an
den Grenzen der Hörbarkeit. Ein Klangerlebnis der
achtsamen Art, das ein weiteres Mal die Seele berührt.
So
bedarf es des Abstands einer Pause, um sich auf die
Wucht der Klänge einzustellen, die die Sinfonie Gustav
Mahlers mit sich bringt. Militärisch geht es zu im
einleitenden Trauermarsch, der sich vom Trompetensolo
bis zum vollen Orchesterklang steigert. Eine
Verherrlichung des Militärischen, wie Mahler es aus der
Habsburger-Monarchie der Vorkriegszeit kannte?
Dämonischer Unterton
Doch
das scheint es nicht zu sein. Denn der Komponist
verwandelt den Wohlklang des Marsches unter der Hand in
ein unheimliches Grummeln mit dämonischem Unterton. Den
stellt der Dirigent in seiner Neuerzählung deutlich
heraus und verweist damit auf die düstere Vorahnung des
Ersten Weltkrieges, die Mahler bereits Jahre vor
Kriegsausbruch in sich trug. Und deutet das mehrfache
Einfügen von beschwingter Volksmusik nicht auf die
verbreitete Ahnungslosigkeit hin, die in der
Verführbarkeit der Massen gipfelte? Eine Anfälligkeit,
die am Ende des 2. Satz beim lautstarken Einsatz der
Blechbläser im Chaos versinkt und sich am Ende des 3.
Satzes gar in eine Totentanz-Stimmung verwandelt. Eine
wahrhaft prophetische Vision am Vorabend der
Katastrophe!
Bevor
im Schlusssatz noch einmal das Tektonische im Untergrund
in seiner bedrohlichen Stimmung mit wuchtiger Intensität
heraufbeschworen wird, besinnt sich Mahler einer
lebenswerteren Dimension des menschlichen Daseins. Und
fügt mit seinem Adagietto für Streicher und Harfe eine
Liebesbotschaft an seine Frau Alma ein. Ein Stück, das
nicht so recht in den vorgegebenen Rahmen zu passen
scheint, das aber gerade dadurch, so versucht es die
Neuerzählung Francois-Xavier Roths zu deuten, seine
Besonderheit erfährt. Ein eindrucksvolles
Konzerterlebnis zur Saisoneröffnung, das beim
Schlussapplaus niemand auf seinem Sitz hält.
Leidenschaft der Liebe
Die neue Frankfurter
“Carmen”
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Es
gibt Menschen, so heißt es, die sind nicht tot zu
kriegen. Wie Bizets Carmen in der Frankfurter
Neuinszenierung von Barrie Kosky. Kaum liegt sie nach
dem Eifersuchtsdrama zwischen ihr und Don José ermordet
am Boden, geschieht ein Wunder biblischen Ausmaßes. Denn
zur Überraschung aller Opernbesucher steht die tote „femme
fatale“ nach wenigen Augenblicken schon wieder auf ihren
Beinen und scheint mit erhobenen Armen wohl selbst
überrascht zu sein über diese für alle unerwartete
Wendung.
Am
Ende des Opernabends in der Oper Frankfurt ist dies der
abschließende Höhepunkt einer mitreißenden
Neuinszenierung, die in ihrer Originalität das
Opernpublikum stets zum näheren Hinschauen und Hinhören
herausfordert. Soll mit Carmens Wiederauferstehung etwa
auf das ewig Weibliche verwiesen werden, das in seiner
dämonisch-erotischen Variante nie aufhören wird zu
existieren? Oder ist dies der endgültige Sieg der von
Carmen immer wieder beschworenen Freiheit, die sich auf
unangepasst-kompromisslosem Weg auch von der
Wirklichkeit nicht einholen lässt?
Neue
Carmen-Opernfassung
Carmens weibliches Gegenstück ist Micaela, ein
anständiges und einfühlsames Mädchen, in dem Don Josés
Mutter bereits die zukünftige Schwiegertochter
ausgemacht hat. Carmens Bekenntnis zur unbeständigen
Liebe, die wie ein Vogel je nach Gefühlslage hin und her
flattert, ist von ganz anderem Kaliber. Mit ihrer
amourösen Ausstrahlung wirft sie den Sergeanten Don José
nicht nur privat sondern auch beruflich aus der Bahn.
Ja,
Prosper Merimée geizt in seiner 1845 entstandenen
gleichnamigen Novelle nicht mit Konfliktstoff (Text:
Henri Meilhac und Ludovic Halévy). Ein Sachverhalt, der
dazu führte, dass immer wieder Änderungen an Libretto
und Komposition vorgenommen wurden. Grund genug, um für
die aktuelle Frankfurter Inszenierung aus den
verschiedenen Fassungen eine ausgesprochen kühne
Carmen-Opernfassung zu erstellen. So setzt sich
beispielsweise die hier gesungene Habanera-Arie aus zwei
unterschiedlichen Varianten zusammen – genial!
Monumentale Treppe
Optisches Zentrum der Aufführung ist die horizontal und
vertikal bühnenfüllende monumentale Treppe (Katrin Lea
Tag). Wie unter einem Brennglas wird die Handlung hier
gebündelt oder ausgebreitet. So beispielsweise der
überschwängliche, ja brodelnden Volksauflauf
(Chor/Kinderchor/Tänzer) beim Erscheinen des Toreros
Escamillo (Andreas Bauer). Atemberaubend Escamillos
Auftritt mit Carmen als Todesgöttin, deren
treppenfüllende schwarze Schleppe (Kostüm: Katrin Lea
Tag) wie ein ausgebreitetes Leichentuch ihren Tod
vorausahnen lässt.
Eine
interpretatorische Leistung, der die „neue“ Carmen in
den Status einer ewig weiblichen Figur erhebt, wie sie
in dieser Form noch nie auf einer Bühne zu sehen war.
Eine riesige Aufgabe für die beiden
Carmen-Interpretinnen (Paula Morrihy/Tanja Ariane
Baumgartner), die die kompromisslose und brutale
Souveränität in der Liebe gesanglich und darstellerisch
irritierend verkörpern.Dagegen Micaela (Juanita Lascarro),
die das liebenswürdige „Heimchen am Herd“ einfühlsam
verkörpert.
Schmeicheln und Drohen
Hin-
und her gerissen zwischen diesen beiden verführerischen
Sirenen wird Don José (Joseph Calleja), der als einer
der weltweit gefragtesten Tenöre mit seinem szenischen
Rollendebüt schmeichelnd und drohend seine immense
stimmliche Variationsbreite erstrahlen lässt.
Und
natürlich gilt der stehende Applaus neben allen
Bühnendarstellern auch dem Frankfurter Opern- und
Museumsorchester, das unter der dynamischen
musikalischen Leitung von Sebastian Zierer Bizets Opéra
comique ebenfalls neues Leben einhaucht. Insgesamt ein
Abend wie aus einem Guss und sicherlich einer der
Höhepunkte der diesjährigen Frankfurter Opernspielzeit.
Ein unmoralisches
Angebot
“Cosi fan tutte” in der
Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: Thilo Beu
Ein
Boulevard-Stück ist Mozarts Oper „Cosi fan tutte“
sicherlich nicht, selbst wenn man das Werk nach der
Vorlage des Librettisten Da Ponte neben „Figaros
Hochzeit“ und „Don Giovanni“ lange Zeit dafür hielt. Dem
Vorurteil leistet das Stück selbst Vorschub, zumal es in
sich alle Merkmale einer Verwechslungskomödie birgt. „So
machen’s alle!“ ist die dabei nicht leicht zu
verkraftende Schlusseinsicht, die Mozarts Meisterwerk
schließlich ein ganzes Jahrhundert lang den Zugang zu
den Opernbühnen verbauen sollte.
Eine
einfache Wette bringt es an den Tag: abgeschlossen
zwischen Don Alfonso (Priit Volmer) und den beiden
Liebenden Guglielmo (Giorgos Kanaris) sowie Ferrando (Tamas
Tarjanyi), stellt sie die Treue der beiden geliebten
Schwestern Fiordiligi (Sumi Hwang) und Dorabella
(Kathrin Leidig) auf die Probe. Und in der Tat fallen
die zunächst auf Treue programmierten Frauen auf die
Verführungskünste der geheimnisvollen Verführer herein.
Zwar ein Erfolg für die unerkannt bleibenden Liebenden
und dabei doch ein Schock hinsichtlich der schließlich
doch noch verlorenen Wette.
Treue und Verführbarkeit
Kein
Zweifel: Mit „Cosi fan tutte“ ist Dietrich W. Hilsdorf
nach seinem Händel-Zyklus, „Aida“ und dem „Wildschütz“
erneut eine überaus meisterliche Operninszenierung
gelungen. Zumal er die Handlung im 18. Jahrhundert
belässt und dazu die Irrungen und Wirrungen um die
menschlichen Grundkonstanten von Treue und
Verführbarkeit, Hoffnung und Enttäuschung, Trieb und
Moral bis in ihre letzten Details durchbuchstabiert.
Dabei jedoch in dieser vom Libretto proklamierten „hohen
Schule der Liebenden“ nicht den Humor vergessend, der
stets kurz davor steht, mit der Aussicht auf Verwundung
und Vergiftung in die Tragödie abzugleiten.
Hilsdorf zur Seite steht ein bewährtes Team, das mit dem
Bühnenbild eines noblen Hotelzimmers (Dieter Richter),
geschmackvollen Kostümen (Renate Schmitzer) und
wirkungsvollen Lichteffekten (Thomas Roscher) eine mehr
als zwei Jahrhunderte zurück liegende Zeitepoche für die
Gegenwart nachvollziehbar macht. Und zugleich
verdeutlicht, dass sich seither in Sachen Liebe offenbar
nichts Grundlegendes verändert hat. Zu dieser Einsicht
tragen auch mit dem erforderlichen Nachdruck die
Sängerinnen und Sänger bei, die mit viel
schauspielerischem Talent die von Hilsdorf
vorausgesetzte Vielschichtigkeit des Problemkreises vor
dem Publikum ausbreiten.
Tiefer Seelenschmerz
Zunächst in der charakterlichen Unterschiedlichkeit der
beiden Schwestern. Beide zunächst emotional
eingeschworen auf die unverbrüchliche Treue gegenüber
ihren Geliebten, beginnt diese Front bei immer weiterem
Beschuss durch anderweitige Liebesschwüre erheblich zu
bröckeln. Schneller bei Dorabella, die vor dem äußeren
Drängen relativ schnell kapituliert. Anders dagegen
Fiordiligi, die sich wild entschlossen zeigt, nicht an
ihren hohen moralischen Grundsätzen rütteln zu lassen –
und dann dennoch scheitert. Beide Damen im zweiten Akt
eine wahre Augenweide mit ihren weiß wallenden Gewändern
im Empirestil.
Umgekehrt programmiert sind natürlich die beiden
männlichen Gegenstücke dieser verwirrenden
Partnerbeziehung. Draufgängerisch zunächst Guglielmo,
der seinen amourösen Erfolg bei Dorabella auf Kosten
seines Freundes zunächst genießt, bis er im umgekehrten
Nachgeben von Fiordiligi sich seiner eigenen Niederlage
bewusst wird. Als zarter besaitet erweist sich dagegen
Ferrando, der die sich anbahnende Entwicklung des
menschlichen Verlustes erahnt und ihr mit tiefem
Seelenschmerz klagend Ausdruck verleiht.
Weibliche Sinnlichkeit
Als
mit allen Wassern gewaschener Drahtzieher in diesem
unwürdigen Spiel erweist sich natürlich Don Alfonso, den
seine pessimistische Lebenserfahrung nun auf der ganzen
Linie triumphieren lässt. Und nicht weniger ist es das
Kammermädchen Despina (Susanne Blattert), das nach allen
Regeln der Kunst die weibliche Sinnlichkeit ins Spiel
bringt, über die Dorabella und Fiordiligi schließlich
mit ihren guten Vorsätzen stolpern. Auch sie in ihrer
rollenbedingten charakterlichen Fragwürdigkeit Teil
eines hochkarätigen Gesangsensembles, über das die Oper
Bonn gegenwärtig verfügt.
Der
jubelnde Schlussapplaus gilt natürlich auch dem
Beethoven Orchester Bonn. In dieser Produktion
kammermusikalisch besetzt, spannt es an diesem Abend
unter der musikalischen Leitung von Christopher Sprenger
(auch am Hammerflügel) den weiten Bogen von zarter
emotionaler Einfühlsamkeit bis hin zu einer wunderbaren
Mozartschen Klangfülle. In dieser ansprechenden Form
erweist sich die Produktion als begeisterndes
Gesamtkunstwerk und damit als einer der Höhepunkte
dieser auslaufenden Bonner Spielzeit.
Tragödie antiken Ausmaßes
“Madama Butterfly” in
der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: Thilo Beu
Bis
heute ist ungeklärt, warum „Madama Butterfly“, das
Paradestück in Giacomo Puccinis Opernschaffen, bei
seiner Uraufführung so gnadenlos durchfiel und zunächst
nichts als puren Spott erntete. War es das im Libretto
von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa nach dem Drama von
David Belasco zelebrierte Zusammentreffen west-östlicher
Kulturen, die hier in ungewohnter Direktheit
unvermittelt aufeinander prallten? Oder doch eher die
vom Stück durchbuchstabierte menschliche Niedertracht in
der Dimension antiker Tragödien, die dem
Premierenpublikum der Mailänder Scala im Jahre 1904
Probleme bereitete.
Emotionale Verdichtung
Bis
heute entfaltet sich in dem Meisterwerk Puccinis das nur
schwer zu ertragende Scheitern einer Beziehung, in die
sich der US-amerikanische Marineleutnant B.F. Pinkerton
(George Oniani) und die blutjunge Geisha Cio-Cio-San,
genannt „Madama Butterfly“ (Yannick-Muriel Noah) hinein
stürzen.
Diese
zeigt sich kompromissbereit, ja selbst zur Aufgabe ihrer
gesellschaftlichen und religiösen Wurzeln bereit. Er
hingegen ein Spieler mit eher unehrenvollen Absichten,
der nicht bereit ist, die schwer wiegenden Bedenken
seines Landsmanns Konsul Sharpless (Giorgos Kanaris) zur
Kenntnis zu nehmen.
Und
dennoch verfügt die Beziehung des Paares über ein
Gefühlspotenzial, das vor ihrer Vereinigung am Ende des
ersten Aktes in dem Liebesduett „Vogliatemi bene, un
bene piccolino“ aufflackert. Und das auf Augenhöhe in
geradezu abgehobener Schönheit und hoher emotionaler
Verdichtung den hingebungsvollen Höhepunkt ihrer Liebe
markiert. Umso einschneidender der sich unmittelbar
anschließende tiefe menschliche Einschnitt, den
Pinkerton mit seiner dreijährigen Abwesenheit
heraufbeschwört, ohne sich seiner Frau gegenüber mit dem
erforderlichen und angemessenem Respekt zu erklären.
Emotionale Vielschichtigkeit
Allein das Auskosten dieser langen Wartephase („Un bel
di vedremo“), in die mit schauspielerischem Talent auch
der kleine Sohn einbezogen wird (Carl Koch),
verdeutlicht die durch und durch gelungene Inszenierung
durch Mark Daniel Hirsch. Denn ihm gelingt es, die im
Werk angelegte kulturelle und emotionale
Vielschichtigkeit minutiös herauszuarbeiten. Durch die
sich deutlich voneinander abhebenden historisch
korrekten japanischen und westlichen Kostüme (Dieter
Hauber) bis hin zum Bühnenbild (Helmut Stürmer), bei dem
durch einfaches Verschieben japanischer Wandeinheiten
bei wechselnder Ausleuchtung (Max Karbe) neue
Räumlichkeiten entstehen.
Großartig während der strapaziös sich ausdehnenden
Wartezeit auch Cio-Cio-Sans Gefährtin Suzuki (Susanne
Blattert). Sie hat das herabwürdigende Spiel Pinkertons
längst durchschaut, ohne jedoch mit dieser schmerzvollen
Wahrheit den Hoffnungspanzer zerstören zu können, in den
sich die liebend Leidende von Anfang an hineingezwängt
hat. Erst als Pinkerton, wenn auch reumütig, zurück
kommt („Addio, fiorito asil“), um in Begleitung seiner
neuen Frau Kate (Kathrin Leidig) den gemeinsamen Sohn
einzufordern, geht für die Betrogene kein Weg mehr an
einem ehrenhaften Selbstmord vorbei.
Musikalisches Ausloten
Einfühlsam loten das Beethoven Orchester Bonn sowie der
Chor des Theater Bonn unter der musikalischen Leitung
von Stephan Zilias die im Werk angelegten Stimmungen
aus. In einer durchweg spannungsgeladenen und zugleich
kurzweiligen Inszenierung, die bis in die Nebenrollen
hinein überzeugt: Jonghoon You als schlitzohriger
Heiratsvermittler Goro, Priit Vomer als rächender Onkel
Bonzo, Johannes Mertes als heiratswilliger Fürst
Yamadori. Dazu Daniel Pannermayr als Kaiserlicher
Kommissar sowie die Familienangehörigen Ji Young
Mennekes als Mutter, Ulrike Gmeiner als Tante sowie
Jeannette Katzer als Base.
Damit
ist der frenetische Beifall des Bonner
Premierenpublikums vorprogrammiert und steht in
diametralem Gegensatz zu der nur schwer
nachvollziehbaren Reaktion des Mailänder
Premierenpublikums vor mehr als hundert Jahren.
Klagende Geige
“Anatevka” in der Oper
Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Wie “Fiddler on
the Roof” mussten sich die Juden im zaristischen
Russland fühlen. Ähnlich jener Geige spielenden
Figur Marc Chagalls, die wie keine andere die
Gratwanderung zwischen Lebensmut und
Hoffnungslosigkeit symbolisiert. Jerry Bock
komponierte nach dem Buch von Joseph Stein und
den Gesangstexten von Sheldon Harnick ein
Musical, das vom Broadway aus als „Anatevka“
seinen Siegeszug um die Welt antrat.
Dabei ist
Anatevka ein jüdisches Schtetl im zaristischen
Russland, das nicht nur unter seiner Armut
leidet. Hinzu kommt die Launenhaftigkeit der
Politik, die schließlich in Pogromstimmung
einmündet und der jüdischen Bevölkerung
Anatevkas zu Beginn des letzten Jahrhunderts
sogar das Existenzrecht abspricht. Packend und
ergreifend erzählt und doch nicht ohne
augenzwinkernden Humor, dem Karl Absenger in
seiner Bonner Inszenierung mit einem ganzen
Kaleidoskop der Gefühle meisterhaft Ausdruck
verleiht.
Milchmann Tevje mit seinen drei
heiratsfähigenTöchtern Zeitel (Sarah Laminger),
Hodel (Maria Ladurner) und Chava (Lisenka
Kirkcaldy).
Foto: Thilo Beu |
|
|
Tradition und Revolution
Allen
voran Tevje, der Milchmann, der seine Familie mehr
schlecht als recht über die Runden bringt. Geradezu ein
Glücksfall in dieser Rolle ist Gerhard Ernst, der auf
liebenswerte Weise seinen Traum vom schnellen Reichtum
träumt. Hat er sich doch zu sorgen um seine eigenwillige
Frau Golde (Anjara I. Bartz) sowie fünf Töchter, davon
drei in heiratsfähigem Alter (Sarah Laminger als Tzeitel,
Maria Ladurner als Hodel und Lisenka Kirkcaldy als Chava).
Und
genau dies ist der Ausgangspunkt für die sich
anbahnenden Konflikte mit der bislang von allen
akzeptierten Tradition. Bekennen sich doch nun die drei
Töchter zu einer unerwarteten Liebesheirat, die nicht
nur der Heiratsvermittlerin Jente (Maria Mallé)
ernsthafte Probleme bereitet. Und die, weit schlimmer,
die väterliche Autorität mit ihrem letzten Wort außer
Kraft zu setzen droht. So bedarf es zur Gesichtswahrung
eines von Tevje inszenierten Albtraums mit Goldes
verstorbener Großmutter (Barbara Teuber), um ein an
Fleischer Lazar Wolf (Martin Tzonev) gegebenes
Eheversprechen wieder rückgängig zu machen.
Dramatischer Aufbruch
So
können der arme Schneider Mottel (Christian Georg) und
der von revolutionären Ideen getriebene Student Perchik
(Dennis Laubenthal) als zukünftige Schwiegersöhne noch
mit Verständnis und dem erhofften väterlichen Segen
rechnen. Nicht jedoch der nichtjüdische Russe Fedja
(Jeremias Koschorz), den er, ohne auch nur einen
Augenblick zu zögern, mitsamt seiner Lieblingstochter
Chava gnadenlos verstößt. Und diese Trennung aufrecht
erhält selbst noch zu einem Zeitpunkt, als die
Gewitterwolken über der jüdischen Gemeinde von Anatevka
längst aufgezogen sind.
Es
ist die zu Herzen gehende Stunde des Abschieds, die
nicht nur die Familie sondern auch die ganze
Dorfgemeinschaft auseinander reißt. Eine Situation, in
der sich zeigt, auf welcher Seite der sich bislang
leutselig gebärdende russische Wachtmeister (Stefan
Viering) zu stehen hat. Bei einem mit überzeugenden
Stilmitteln gestalteten dramatischen Flüchtlingstrek
(Ausstattung: Karin Fritz, Licht: Friedel Grass) in eine
Ungewissheit, der sich, daran soll wohl erinnert werden,
schon wenige Jahrzehnte später unter anderen politischen
Vorzeichen noch steigern sollte.
Farbige
Glanzpunkte
Und
zweifellos setzt die Inszenierung auch Assoziationen
frei zu der Flüchtlingssituation unserer Tage. So sind
es Szenen wie diese, in denen das Beethoven Orchester
Bonn unter der musikalischen Leitung von Stephan Zilias
unglaublich anrührend aufspielt. Als ebenso überzeugend
erweisen sich auch der Chor des Theater Bonn, der
Kinder- und Jugendchor sowie eine Tänzergruppe (Choreographie
Vladimir Snizek), die dem jüdischen Dorfleben Anatevkas,
vor allem während der Hochzeitsfeier, mit ihren
tänzerischen Ausdrucksmitteln farbige Glanzpunkte
verleiht.
So
erbringen die abschließenden lang anhaltenden stehenden
Ovationen den Erweis, wie jung das Stück in all den
Jahrzehnten geblieben ist. Und wie sehr es diese Bonner
Inszenierung auch heute noch vermag, die klagenden Töne
des „Fiddler on the Roof“ vernehmbar zu machen.
Paukenschlag einer
Erstaufführung
Verdis “Jérusalem“ in
der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Ein
Opernlibretto, das einen Kreuzzug zum Gegenstand hat?
Teilweise gespickt mit massiven Unfreundlichkeiten
gegenüber der jeweils anderen Religion? Was heute vor
dem Hintergrund politischer Korrektheit nur mit großen
Vorbehalten durchsetzbar wäre, bereitete dem
italienischen Librettisten Temistocle Solera Mitte des
19. Jahrhunderts kaum Kopfzerbrechen. Und auch nicht dem
jungen Komponisten Giuseppe Verdi, der mit „I Lombardi“
einen neuen Fixstern an den Himmel seines bisherigen
Opernschaffens heftete.
Doch
eine Nachfrage der Pariser Oper ließ ihn noch einen
Schritt weiter gehen. Mit Unterstützung der Librettisten
Alphonse Royer und Gustave Baez übersetzte er das Werk
gleichsam aus dem Italienischen ins Französische. Und
verlieh ihm damit über weite Passagen eine neue
musikalische Form, die unter dem Namen „Jérusalem“ den
lang anhaltenden Erfolg dieser französischen Grande
Opera begründete. Demgegenüber zeigte man sich in
Deutschland über mehr als eineinhalb Jahrhunderte spröde
gegenüber diesem Frühwerk Verdis, selbst wenn sich seine
bekannteren musikalischen Meisterwerke darin längst
ankündigten.
Aufbrausende Gefühle
Umso
überraschender der Paukenschlag einer deutschen
Erstaufführung, mit dem die Oper Bonn in ihrer Reihe
über unbekannte Verdi-Opern das Werk soeben zutage
förderte. Eine poetische und emotional anrührende
Inszenierung von Francisco Negrin in Zusammenarbeit mit
dem Theater ABAO Bilbao. Dabei vor allem ausgehend von
dem Anliegen, selbst bei problematischem Stoff eine
„visuell und physisch ergreifende Erfahrung“ zu
schaffen, dazu geeignet, „das Publikum dieser Zeit zu
berühren“. (Bühne: Paco Azorin, Kostüme: Domenico
Franchi, Licht: Thomas Roscher, Video: Joan Rodón,
Emilio Valenzuela Alcaraz)
An
emotionalen Bezügen mangelt es dem Werk in der Tat
nicht. Auf der politischen Ebene während der Eroberung
Jerusalems ebenso wie auf der privaten Ebene der daran
Beteiligten. Dabei in Schlüsselpositionen der Graf von
Toulouse (Csaba Szegedi) als Heerführer des Ersten
Kreuzzugs. Ebenso wie sein von Neid und Missgunst
zerfressener Bruder Roger (Franz Hawlata). Ein
skrupelloser Egoist, dessen kriminelle Machenschaften
ihn jedoch einholen, bis
er in
leidvoll erfahrener später Reue daran zerbricht.
Insgesamt ein Kaleidoskop impulsiv aufbrausender
Gefühle, die wie musikalische Leuchtfeuer immer wieder
neu aufflackern.
Innere
Verbundenheit
Innerlich aufgewühlt ist auch Hélène, die Tochter des
Grafen (Anna Princeva). Ebenso wie der ihr in Liebe
verbundene Gaston als der Vicomte de Béarn (Sébastien
Guèze). Ein überaus junges und liebreizendes Paar, das
seine Romeo-und-Julia-Beziehung bei allen Irrungen und
Wirrungen des Kreuzzugsgeschehens zwischen Toulouse und
Jerusalem glaubwürdig aufrecht zu erhalten weiß. Und das
in seiner inneren Verbundenheit einer von Roger
angestrebten inzestuösen Onkel-Nichte-Beziehung eine
klare Abfuhr erteilt.
So
wie sie wissen auch die anderen Mitwirkenden stimmlich
zu überzeugen. So Adhémar de Monteil als der Legat des
Papstes (Priit Volmer), Isaure als die Vertraute von
Hélène (Brigitte Jung), Raymond als Begleiter Gastons
(Christian Georg), der Emir von Ramla (Giorgos Kanaris),
dessen Offizier (Christian Specht) sowie der Herold
(Egbert Herold) und der Soldat (Nicholas Probst).
Großartig auch Chor und Extrachor des Theater Bonn
(Einstudierung: Marco Medved), die in ihren Rollen als
Kreuzritter, Sarazenen und Volk mit ständiger Bewegung
das Bühnengeschehen beleben.
Musikalische Akzente
Die
musikalische Leitung des Premierenabends obliegt Will
Humburg, der, mit dem engagiert aufspielenden Beethoven
Orchester Bonn bestens vertraut, die deutsche
Erstaufführung mit sicherem Instinkt aus der Taufe hebt.
Und dem dabei die Freude über diese Neuentdeckung
deutlich anzumerken ist.
Davon
lässt sich das Premierenpublikum gern anstecken, das in
ausverkauftem Haus seiner Begeisterung mit lang
anhaltendem Beifall in stehenden Ovationen Ausdruck
verleiht. Und dadurch bestätigt, dass es sich durch das
von Francisco Negrin intendierte Konzept einer visuell
und physisch ergreifenden Erfahrung hat überzeugen
lassen.
Foto: Thilo Beu
Liebeserklärung an den
Tango
“Maria de Buenos Aires”
in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Im
Rahmen ihrer Reihe „populäre Moderne“ zelebriert die
Oper Bonn die weltweit erste Tango-Oper.
Ist
Tango ansteckend? Dafür scheint das Bonner
Premierenpublikum den Beweis zu erbringen. Und erwirkt
mit seinem frenetischen Beifall eine im Bereich der Oper
eher ungewöhnliche Zugabe. Diese ermöglicht es Maria (Luciana
Mancini), Hauptdarstellerin der „Tango Operita“ von
Astor Piazzolla, erneut über sich selbst hinauszuwachsen
mit ihrer eigenen temperamentvoll vorgetragenen
Personenbeschreibung: „Ich bin Maria … Maria Tango,
Maria der Vorstadt, Maria Nacht, Maria fatale
Leidenschaft, Maria der Liebe zu Buenos Aires bin ich!“
Und
verdeutlicht damit noch einmal die Verworfenheit des
Milieus von Buenos Aires, in dem der Tango Ende des 19.
Jahrhunderts aus unterschiedlichen kulturellen Wurzeln
heraus entstand. Überaus rhythmisch und sinnlich dazu
bis hin zur Lasterhaftigkeit. Dann jedoch, unter den
Verwerfungen der argentinischen
Einwanderungsgesellschaft und speziell unter dem
Einfluss mittelloser Europäer, wurde er das allerseits
akzeptierte Aushängeschild gesellschaftlicher Identität
auf seinem langen Weg zum salonfähigen Paartanz.
Hure
und Heilige
So
ist der Tango von seinen Ursprüngen her, das macht die
konzertante Bonner Aufführung von Piazzollas Meisterwerk
deutlich, mehr als die Rose im Mund des Verführers. Sein
Milieu sind die herunter gekommenen Viertel von Buenos
Aires, geprägt von arbeitslosen Bettlern und
Obdachlosen, von Zuhältern und Prostituierten, von
Dieben und Säufern. Ein überaus geeigneter Nährboden, um
eine diesem Milieu entstammende Maria nach ihrem Tod zur
mythischen Gestalt zu erheben.
Genau
der geeignete Stoff für Horacio Ferrer, um daraus ein
Libretto zu erstellen, in dem er in lockerer szenischer
Folge nach Art einer Nummernoper seine Hauptfigur Maria
als Hure und Heilige darstellt. Und damit die
Voraussetzung schafft für die Verwandlung des Tangos in
eine Menschengestalt. Aus dem Jenseits herbei gesehnt
von El Duende, einem ihrer ehemaligen Geliebten (Daniel
Bonilla-Torres), der in seiner Sprecherrolle einfühlsam
und dann wieder wie in einem unkontrollierten Rausch die
ereignisreiche Vita Marias kommentiert. Stets mit einem
schmerzlichen Unterton, so wie auch der Cantor (Johannes
Mertes), der sich mit seiner Gesangsrolle auf mehreren
Handlungsebenen bewegt.
Foto: Thilo Beu
Tango-Ensemble
Rauschhaft nach Darstellung des Komponisten Piazzolla
auch die Entstehung seiner Oper in enger Zusammenarbeit
mit dem Librettisten Ferrer. Verbarrikadiert in
ländlicher Einsamkeit und angetrieben von dem Ziel, in
möglichst kurzer Zeit ein überzeugendes Ergebnis
vorzulegen. Dies ist, wie die Bonner Aufführung beweist,
unter Einbeziehung verschiedener Vorläufer-Spielarten
des Tangos bis hin zum „Tango Nuevo“ Piazzollas auch
hervorragend gelungen.
Zudem
greift der Komponist zurück auf bekannte Mittel der
klassischen Formsprache und vermischt eine Toccata, Fuge
sowie oratorienhafte Passagen mit Jazz,
Barmusik-Elementen und Ballett. Bei einer eher
kammermusikalischen Besetzung des Orchesters bleibt der
Charakter eines Tango-Ensembles allerdings erhalten.
Nicht zuletzt durch den Einsatz der typischen
Tango-Instrumente wie Bandoneon (Lothar Hensel), Flöte
(Mariska van der Sande), Gitarre (Christian Kiefer),
Klavier (Thomas Wise) und Solovioline (Mikhail Ovrutsky).
Tango-Flair
Die
Verwandlung des Beethoven Orchester Bonn in ein
Tango-Ensemble ist vor allem Christopher Sprenger zu
verdanken, dem die musikalische Leitung obliegt.
Umsichtig und nahtlos fügt er die Orchestermusiker mit
den Instrumental- und Vokalsolisten zusammen und erzeugt
damit ein Tango-Flair, das von Beginn an von den
Zuhörern Besitz ergreift.
Unterstützt von der Lichtregie (Friedel Grass), die mit
schlichten aber einprägsamen Details arbeitet. Zum
Beispiel mit einem über den Asphalt gegossenen Schatten,
der dem laut Libretto über die Erde geisternden Schatten
Marias entspricht, aber auf dramatische Weise
abschließende Fragen in den Raum stellt. Fast kafkaesk
und doch im Tango-Rausch die Fantasie anregend. Eine
Aufführung, die den Applaus fürwahr verdient.
Champagner-Arie mit
Klick-Lauten
Die „African Angels“ in
der Beethovenhalle Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: BB-PROMOTION Mannheim
Facettenreich und bunt wie Südafrika selbst versprüht
der Opernchor Kapstadt die reinste Lebensfreude.
Als
wäre die Champagner-Arie aus der „Fledermaus“ nicht
schon schwungvoll genug. Bestens geeignet als
musikalischer Höhepunkt für feuchtfröhliche Stunden.
Nicht so für die „African Angels“, die ausgelassene
Sektlaune noch überhöhen mit afrikanischem Lebensgefühl,
das schließlich in ungewohnten Xhosa-Klicklauten seinen
musikalischen Niederschlag findet. Eine durchaus
gelungene Symbiose, mit der die Künstler vom Kap den
Zuhörern vom Rhein frenetische Beifallsstürme entlocken.
Wie
nicht anders zu erwarten bei der Solisten-Auswahl des
Opernchores Kapstadt (Chorleitung: Marvin Kernelle), der
unlängst in einem international ausgeschriebenen
Opernchor-Wettbewerb mit weit über eintausend
Teilnehmern auf dem Siegespodest ganz oben landete. Und
seitdem in der gesamten Fangemeinde, so auch während der
soeben begonnenen zweiten Deutschlandtournee, die Frage
aufwirft, worin konkret sein künstlerisches Geheimnis
besteht.
Originelles Mischungsverhältnis
Die
musikalische Qualität der insgesamt 18 Sängerinnen und
Sänger steht ohnehin außer Zweifel, denn im Verlauf des
Abends bekommen sie alle ausreichend Gelegenheit zu
einem überzeugenden solistischen Auftritt. Doch ist es
nicht auch das originelle Mischungsverhältnis aus
„Opera, Gospel und African Traditionals“, wie es sich
die „African Angels“ auf ihre Fahne geschrieben haben
(Musikdirektor und Piano: José Dias)? Und das sie nun
mit 25 Programmtiteln in ständig wechselnden Bildern auf
die Bühne bringen (Choreografie und Regie: Jacki Job).
Bei
der Gattung Oper steht, eingerahmt von Giuseppe Verdis
„Chor der Diener“ aus Don Pasquale und seinem
„Gefangenenchor“ aus Nabucco, George Gershwins „Porgy
und Bess“ im Mittelpunkt. Dabei besonders anrührend das
Liebesduett „It Ain’t Necessarily so“ und abschließend,
mit völlig anderer Intention, das aufrüttelnde „Oh Lawd,
I’m On My Way“. Die ausgestreckten Arme und geballten
Fäuste des Chores dabei als Zeichen der Erinnerung an
den zurück liegenden politischen Kampf?
Neue
Freiheit
Zu
Herzen gehend auch das Stück „Weeping“ (D. Heymann), bei
dem der Chor zu einer langen Reihe aufschließt, die in
leicht schwankender Bewegung an das zurück liegende Leid
der Unterdrückung erinnert. Und dann im Zusammenklang
mit drei markanten Frauenstimmen feierlich, ja hymnisch,
den Geist Nelson Mandelas beschwört. Denn der steht für
Versöhnung und für die Abkehr von aller Gewalt bis hin
zu der befreienden Schlussbotschaft des Textes „It’s all
over now“.
Dieses Bewusstsein der neuen Freiheit spiegelt sich auch
in der musikalischen Interpretation der Spirituals.
Angefangen mit „Elijah Rock“ (Arrang. M. Hogan), bei dem
es selbst den Pianisten nicht auf seinem Klaviersessel
hält, um mit präzisen Einsätzen die aufbrausende im
Stück angelegte Virtuosität des Chores zu bändigen.
Gefolgt von „Ev’ry time I feel the Spirit“ (Arrang. B.
Chilcoff) und “Ol’ Time Religion” (Arrang. K. McCutchen),
wobei sich die Ausgelassenheit von der Bühne bis
hinunter in die letzte Reihe des Publikums überträgt.
Seele
Afrikas
Erst
recht in den African Traditionals bringen die „African
Angels“ die Seele Afrikas zum Klingen. Wie in „E
Marabini“, bei dem sich sechs solistische Männerstimmen
zu einer stimmgewaltigen Gesangsgruppe vereinen, um dann
mit dem Klavier leise zu verhallen. Emotional packend
auch „Asimbonanga“ und „Thula Baba, Thula Sana“ bis hin
zu „Pata Pata“, dem legendären Miriam-Makeba-Song.
Musik
ohne Grenzen? Auch die über das gesamte Programm
verstreuten und raffiniert arrangierten Weihnachtslieder
tragen zum Jahreswechsel zu dieser Grenzüberschreitung
bei. Der „Christmas Medley“ mit dem Jingle Bell Rock (Beal
and Bothe) ebenso wie der „Hallelujah Medley“ (Händel
and Jones), in einer Art, wie man die Klänge des
barocken Altmeisters nie zuvor gehört hat. Eine
originelle, ja begeisternde Gesamtleistung!
Weihnachtlich durch Raum
und Zeit
Yulia Parnes gastiert im
Bonner Klavierhaus Klavins
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Eine „musikalische
Weihnachtsreise um den Globus“
sucht nach den Gefühlen
des Weihnachtsfestes
Keine
schlechte Idee, einfach die Augen zu schließen und sich
eine im aufsprühenden Schnee vorüber eilende Troika
vorzustellen. Feurige Rosse mit wehender Mähne und
stampfenden Hufen vor einem in winterlicher Landschaft
sanft dahin gleitenden Schlitten. Eingehüllt in den
Schall hell klingender Glöckchen, die den Takt vorgeben.
Kein Zufall, dass die russische Sopranistin Yulia Parnes
am Ende einer „musikalischen Weihnachtsreise um den
Globus“ ihre Zuhörer in ihre russische Heimat entführt.
Nach vielfachen Umwegen über Asien und Amerika wieder
zurück nach Europa.
Doch
ihr Herz, das macht das mit glockenreinem Sopran
vorgetragene Weihnachtslied „Der lange Weg“ deutlich,
schlägt vor allem für Russland. Dort wo sie in Moskau am
Tschaikowski-Konservatorium ihre musikalische Ausbildung
erfuhr. Und wo sie, worauf die Moderatorin des Abends
Susanne Gundelach in einer kurzen Lebensbeschreibung
verweist, unter anderem am Bolschoi-Theater erste
künstlerische Erfahrungen sammelte. Bis sie im Jahr 2004
nach Bonn übersiedelte, wo sie seither am Ausbau ihrer
Solokarriere arbeitet.
Wegbegleiter
Begleitet wird Yulia Parnes auf der langen Weltreise
dieses Konzertabends von der russischen Pianistin Maria
Streltsova. Virtuos wie in dem finnischen Weihnachtslied
„Gib mir dieses Kind“ von Jean Sibelius und einfühlsam
wie in dem Lied „Noel“ des Elsässer Komponisten Adolphe
Adam. Stücke, die auch die Sängerin dazu animieren,
ausdrucksstark über sich selbst hinaus zu wachsen.
Dazu
verhilft, soweit sie nicht selbst zur Gitarre greift,
auch ihr russischer Landsmann Roman Gorich, der mit
ungewohnten Klängen, die er klopfend und streichelnd dem
Gitarrenkörper entlockt, sein musikalisches
Einfühlungsvermögen unter Beweis stellt. Wie in dem
schottischen „Auld Lang Syne“, bei dem zu der Melodie
„Nehmt Abschied Brüder“ rhythmische Schläge mit den
Fingern auf die Gitarrensaiten den glockenhellen Sopran
eigenwillig untermalen.
Gefühle
und Geschenke
Die
originelle Auswahl internationaler Weihnachtslieder
macht deutlich, welchen Stellenwert die Wiegenlieder in
den jeweiligen Weihnachtslied-Traditionen einnehmen.
Angefangen bei „Auf dem Berge da wehet der Wind“ aus
Oberschlesien über das polnische „Schlafe Jesulein“ bis
hin zum bayerischen „Es wird scho glei dumpa“.
Anrührende Gefühlsäußerungen, mit denen sich die
jeweilige Volksseele auf intimste Weise des neu
geborenen Christkindes annimmt.
Lebhaft, ja lustig geht es dagegen zu, wenn beim
israelischen „Sevivon , sov, sov, sov“ schwungvolle
Ausgelassenheit und Spritzigkeit für Stimmung sorgen.
Ebenso wie in dem mexikanischen „Ya viene la vieja“, wo
zu spanischem Gitarrenklang bei schmissiger Melodie im
Dreivierteltakt auf ulkige Weise eine Alte angekündigt
wird, die – vielleicht sogar in Anlehnung an die
begehrliche Tradition der Weihnachtslotterie? - dem
Jesuskind Geschenke bringen soll.
Fanfarenhafter Sopran
Und
dann wieder der unverkennbar hymnische Charakter von
„Adeste Fideles“, wobei die Gläubigen aufgefordert
werden, „fröhlich triumphierend“ nach Bethlehem zu
eilen. Natürlich lässt Yulia Parnes sich an dieser
Stelle nicht die Gelegenheit entgehen, ihren klaren
Sopran wie eine Fanfare zum Einsatz zu bringen.
Dagegen fernab aller christlichen Tradition „The
Christmas Walse“ aus dem Jahr 1954. Frank Sinatra, der
damals auf einen völlig neuen Christmas Sound aus war,
hatte ihn bei S. Cahn und J. Styne in Auftrag gegeben.
Das Ergebnis, wie Yulia Parnes es mit ihrer eigenen
Gitarre präsentiert, kann sich in der Tat hören lassen.
Und wird es nicht eines Tages vielleicht selbst zu einer
Weihnachts-Tradition?
Weihnachtsfreude
Mit
dem ukrainischen „Die neue Freude ist gekommen“
schimmert noch einmal die in allen Liedern enthaltene
Weihnachtsfreude durch, die die engagierte Sängerin den
Zuhörern mit ihrer breit gefächerten Auswahl durch Raum
und Zeit vermitteln möchte. Und das ist ihr, das zeigt
der begeisterte Applaus, auch wunderbar gelungen.
Im Reich der Süßigkeiten
Tschaikowskis
“Nussknacker” in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto:
Jekaterinburg State Academic Opera and Ballett Theatre
Bei
den Bonner „Highlights des Internationalen Tanzes“
gastierte das Ballett der Staatsoper Jekaterinburg
Warum
ausgerechnet die kleinen Chinesen? Auf offener Szene und
dann noch einmal im Schlussapplaus fliegen ihnen die
Herzen des Publikums nur so zu. Und das, obwohl das
Tanzduo mit seinem Chinesischen Tanz (Kunkun Pak, Tomoha
Terada) nur den kürzesten Auftritt im Rahmen des
„Nussknacker“-Divertissements vorweisen kann. Denn da
erreichen auch der Spanische, der Orientalische und der
Russische Tanz sowie abschließend der legendäre „Pas de
trois“ allerhöchste tänzerische Qualität. In einer
traumwandlerischen Sicherheit, die zu beweisen scheint,
dass man auch östlich des Urals im sibirischen
Jekaterinburg offenbar die Freude am Tanz bereits mit
der Muttermilch eingesogen hat.
Und
die Chinesen? Tapsig bewegen sie sich zu Tschaikowskys
musikalischem Kabinettstückchen über die Bühne, eher
unbeholfen und schon gar nicht elegant. Das sollen sie
auch nicht. Vielmehr bestehen ihre Funktion und ihre
Wirkung gerade darin, die in Europa bereits zu
Tschaikowskys Zeiten vorherrschenden Vorurteile
gegenüber dem Volk aus dem Fernen Osten zu bestätigen.
Ein Trick, der bis heute funktioniert und die Lacher
stets neu auf seiner Seite hat, wo doch sonst vor allem
pure Bewunderung angesagt ist.
Bühnenbildnerischer Kunstgriff
Ob
E.T.A. Hoffmann es sich wohl hat träumen lassen, dass er
mit seiner Geschichte vom „Nussknacker und Mausekönig“
einen solchen Publikumserfolg landen würde? Der vor
allem in der Vertonung von Peter I. Tschaikowsky nach
dem Libretto von Marius Petipa seinen festen Platz
finden sollte im tänzerischen Weihnachtsrepertoire auf
fast allen Bühnen der Welt? Auch die Jekaterinburger
Choreografie von Vasili Vainonen erfüllt alle
Erwartungen.
Bereits in der Einleitung, als sich die Fassade von
Maschas Elternhaus mit einem bühnenbildnerischen
Kunstgriff in eine festlich geschmückte bürgerliche
Weihnachtsstube verwandelt. Dort wo sich Onkel
Drosselmeyer (Sergej Krashchenko) vor der Bescherung als
Zauberkünstler erweist, der mit seiner Kunstfertigkeit
die Kinderschar vor dem großen Ereignis in seinen Bann
zieht, die in ihrer weihnachtlichen Ausgelassenheit
immer weitere Tricks einfordert.
Wild
wirbelnde Flocken
Großartig gelungen auch die Traumszene Maschas (Elena
Vorobeva), als die undisziplinierte Unterwelt der
Mäusebande mit dem Mäusekönig (Mikhail Rafalson) als
ihrem Anführer auf die in Reih und Glied
einmarschierende Pfefferkuchen-Soldatentruppe stößt.
Säbel schwingend und fest gewillt, den mafiotisch
anmutenden Gestalten der Gegengruppe die Grenzen
aufzuzeigen. Eine bei aller Märchenhaftigkeit
unglaublich realistisch gestaltete Auseinandersetzung,
bei der der Sieg durch beherztes Eingreifen des
Nussknackers (Ilia Borodulin) natürlich der richtigen
Seite zufällt.
Dazu
als Gegenpol der Schneeflocken-Walzer (Solistinnen:
Ekaterina Sapogina, Elena Sharipova),
die
mit ihren zierlichen Schneekäppchen und ihren weißen
Röckchen nur auf den ersten Blick die Wiederherstellung
der Ordnung darstellen. Vielmehr ist es die
choreographische Aufgabe der 16 Tänzerinnen, trotz der
Einheitlichkeit ihres Auftretens, wie in einem
Schneesturm in immer neuen Konstellationen wild
durcheinander zu wirbeln und damit dem russischen Winter
alle Ehre zu erweisen.
Weihnachtsgeschenk
Bis
schließlich im Zauberschloss von Zuckerburg der
Blumenwalzer die Harmonie der Bewegung und der äußeren
Erscheinung wiederherstellt. Eine Augenweide im präzisen
Zusammenspiel mit dem Orchester der Staatsoper
Jekaterinburg unter der Leitung von Andrei Anikhanov.
Bis hin zum Finale, als Mascha und der aus dem
Nussknacker entstandene Prinz sich mit höchster
tänzerischer Perfektion in der Apotheose vereinen, bevor
Mascha aus ihrem Traum erwacht.
In
der Tat ein musikalisches und choreographisches
Weihnachtsgeschenk des Ballets und Orchesters der
Staatsoper Jekaterinburg. Wie bereits der voran
gegangene Tanzabend „La Sylphide“ () sowie die in ihrer
Vielseitigkeit beeindruckende Balletgala mit „Paquita“
(Ludwig Minkus), den „Salieri Variationen“ (Antonio
Salieri) und „Liebe und Tod“ (Polad Bülbüloglu). In der
Tat wahre „Highlights des Internationalen Tanzes“.
Erlösung durch Liebe
Wagners “Fliegender
Holländer” in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto:
Thilo Beu
„Der
fliegende Holländer“ – Mythos des Seefahrers der
tragischen Gestalt. Von Richard Wagner im Jahr 1843 in
seiner gleichnamigen Romantischen Oper in drei Aufzügen
der musikalischen Überhöhung für Wert befunden.
Abschreckend und anrührend zugleich, hat es sich der
Holländer doch durch eigenes gotteslästerliches
Fehlverhalten selbst zuzuschreiben, in Ewigkeit unerlöst
mit seinem Geisterschiff die Weltmeere zu durchpflügen.
Es sei denn, er fände eine Person, die ihm in Liebe
zugetan wäre und, um der Erlösung willen, den weiteren
Weg mit ihm teilte.
Auf
seiner langen Irrfahrt ist der Holländer nun in Bonn am
Rhein angekommen. In dem ihm vom Mythos zugestandenen
schmalen Zeitfenster am Ende einer siebenjährigen Frist,
in dem ihm Erlösung zuteilwerden könnte. Wird die
Inszenierung von Walter Schütze (auch Bühnenbild und
Kostüme) sie ihm gewähren? Enthält doch Wagners Libretto
einige Tücken, die nicht so leicht zu umschiffen sind
und jede Inszenierung vor eine neue Herausforderung
stellen.
Liebe
als Zauberwort
Gemeint ist nicht die Verlegung des Handlungsortes vom
ursprünglichen Kap der Guten Hoffnung an die wilde und
unberechenbare norwegische Küste. Ein Kunstgriff , der
die Dramatik nach hiesigem Verständnis eher noch zu
steigern scheint. Den Dreh- und Angelpunkt stellt –
Wagner folgend – nach Schützes Einschätzung wohl eher
die „LIEBE“ dar. Jenes im Libretto zentrale Zauberwort,
das gleich zu Beginn vor dunklem Hintergrund
bedeutungsvoll eingeblendet wird. Und am Ende gleich
noch einmal, diesmal sogar mit Ausrufezeichen versehen.
Doch
welche Liebe ist gemeint? Auf den ersten Blick wohl die
im Mythos hoch angesiedelte Liebe von Senta (Magdalena
Anna Hofmann) zu dem Holländer (Mark Morouse). Von
höherer Erlösungsinstanz dazu vorgesehen, den
hoffnungslos umher Irrenden von seinem Leiden des
Nicht-Sterben-Könnens zu befreien. Noch vor dem Jüngsten
Gericht, das ohnehin nichts als „ewige Vernichtung“ für
ihn bereit hält.
Zielgerichtete Dringlickeit
Wie
viel dabei für den Holländer auf dem Spiel steht, macht
Mark Morouse von Anfang an („Die Zeit ist um!“) in
einfühlsamer und zugleich zielgerichteter Dringlichkeit
deutlich. In einem hoffnungslos-hoffnungsvollen Drängen,
dem Kapitän Daland (Priit Volmer) als Sentas Vater
nichts Wesentliches entgegen zu setzen hat. Und mit kaum
zu ergründender Leichtigkeit umgehend seine geliebte
Tochter den ihm unbekannten geheimnisvollen Seefahrer
verspricht.
Auch
Magdalena Anna Hofmann als Senta ist von Anfang an trotz
des feuchtfröhlichen Klamauks in der Spinnstube (Anjara
I. Bartz als Sentas Amme Mary) die Leidenschaft
gegenüber Unbekannt anzuspüren. Ein abgrundtiefes
Verfallensein, das sich dann beim persönlichen
Zusammentreffen sogleich emotional ins Unermessliche zu
steigern scheint. Vergessen die Schwüre von Liebe und
Treue, die ihr Verlobter Erik (ausdrucksstark Paul
McNamara) flehentlich bittend und doch vergebens für
sich in Anspruch nimmt.
Symbol
der Gattenliebe?
Ihre
eigenen Liebesschwüre leugnend, wird Senta sicherlich
nicht zum Symbol der Gattenliebe wie Leonore in Ludwig
van Beethovens „Fidelio“. Denn nun gilt ihr Treueschwur
dem Holländer, der für einen kurzen Augenblick des
Zweifelns seinem Schicksal nichts Anderes mehr
entgegenzusetzen weiß.
Ist
es nun Liebe oder Aufopferung, die sie „treu bis in den
Tod“ sein lässt um damit das gemeinsame Schicksal zu
besiegeln? Etwas abrupt und darin vergleichbar manch
anderer Ungereimtheit, wie die in den begeisterten
Schlussapplaus eingeflochtene Kritik vermuten lässt.
Gegen
Kritik gefeit ist allerdings die musikalische Leistung
des Abends. Ausgesprochen hoch der Anspruch von Chor und
Extrachor des Theater Bonn (Einstudierung Volkmar
Olbrich), besonders ausdrucksstark mit „Steuermann lass
die Wacht“ im 3. Aufzug. Begeisternd auch das Beethoven
Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung von
Hendrik Vestmann, das sich bereits bei der Ouvertüre
glaubwürdig in die sich anbahnende Dramatik hinein
steigert und den Spannungsbogen während der pausenlosen
Aufführung bis zum Schlussakkord aufrecht erhält.
Shakespeare als modernes
Rockballett
“Romeo and Juliet” in der
Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto:
Manfred H. Vogel
Lässt sich der
Geschichte von Romeo und Julia nach den zahllosen
Erzählversuchen der Vergangenheit heute noch etwas Neues
abgewinnen? Der „größten Liebesgeschichte der Welt“,
über die in allein dreißig Filmproduktionen alles gesagt
zu sein scheint. „Keinesfalls!“ meinen Adrienne Canterna
als Choreograhin und Rasta Thomas als künstlerischer
Direktor der Bad Boys of Dance. Sie sehen ihre Chance
darin, den dramatischen klassischen Stoff – ungewöhnlich
genug – in den Rahmen eines modernen Rockballetts
einzupassen.
Und ihr Plan geht
auf. Denn zwar bleiben sie dem
Shakespeare-Erzählzusammenhang verpflichtet. Doch
musikalisch und tänzerisch bringen sie etwas
bemerkenswert Neues auf die Bühne. Diesmal wenig
Prokofieff, dafür aber viel Vivaldi und hin und wieder
David Guetta, Lady Gaga, Katy Perry sowie The Righteous
Brothers in einer emotional überaus aufgeladenen
Mischung, die unmittelbar mit dem dramatischen
Bühnengeschehen korrespondiert.
Männlichkeitshormone
Und selten galt es
so ausgefeilte Charaktere zu bewundern, die allesamt
unmissverständlich ihre tänzerische Rolle auszufüllen
vermochten. Allein die Einführung der handelnden
Personen bietet ein unerwartetes Kabinettstück. Nach
Motiven aus Vivaldis Violinkonzert und seinen „Vier
Jahreszeiten“ stellen sich alle Mitwirkenden der Reihe
nach vor. Und machen tänzerisch neugierig darauf, welche
Gefühle und Leidenschaften sich wohl hinter ihnen
verbergen.
Beispielsweise
Tybalt (Kyle Lucia) aus dem Hause der Capulets, der
seine Männlichkeitshormone kaum im Zaum halten kann.
Eine Trainingsstunde im Boxstudio verdeutlicht, zu
welchen Aggressionen er fähig ist. Und vor allem wie er
mit Leuten umgeht, die ihm auf irgendeine Weise in die
Quere kommen. Wie zum Beispiel Mercutio (Jarvis Mc
Kinley) aus dem Hause der Montagues, dem selbst noch im
Sterben die Menschenverachtung seines Widersachers
entgegen schlägt.
Martialische Pose
Dagegen Romeo
(Preston Swovelin) und Julia (Jordan Lombardi) als die
Liebenden, die alles opfern, um füreinander da sein. Ihr
Bekenntnis zueinander und ihre Leidenschaft füreinander
gipfeln in jener Zärtlichkeit, die nur Pater Lorenzo (Jace
Zeimantz) und die Amme (Jourdan Epstein) richtig
einzuordnen wissen. Unglaublich einfühlsam und anrührend
ihr gefühlvoller Hochzeitstanz nach Lady Gagas „The Edge
of Glory“.
Doch dann als
Kontrapunkt gleich danach die arrogante Gewaltexplosion
Tybalts, die Mercutio das Leben kostet und den
Handlungsstrang in die Unumkehrbarkeit überführt. Der
alles entscheidende Wendepunkt, der ausnahmsweise dann
doch einmal von Prokofieffs Musik kommentiert wird, die
in martialischer Pose daher kommt.
Wechselspiel der
Gefühle
So nimmt das
Wechselspiel der Gefühle bis in den Tod hinein seinen
Lauf, der die Liebenden dann doch noch vereint. Und
selbst in dieser menschlichen Extremsituation bleibt
Adrienne Canterna den Beweis für ihre Grundthese nicht
schuldig, „dass nichts dieses Gefühl besser zum Ausdruck
bringen kann als der menschliche Körper, wenn er tanzt“.
Das Publikum ist
von dieser Logik längst überzeugt und spendet in
standing ovations frenetischen Beifall. Einen solchen
mitreißenden Abend im Rahmen eines modernen Rockballetts
hatte es wohl angesichts des hinlänglich bekannten
Stoffes nicht erwartet.
Götterwille und Menschenschicksal
Julian
Andersons “Thebans” in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto:
Thilo Beu
Wer
ist schuld an dem menschlichen Schlamassel, in dem sich
König Ödipus unverhofft wiederfindet? Ist er es selbst,
indem er seinen eigenen Vater umbrachte und dazu noch
seine eigene Mutter schändete? Dann wäre die
Selbstverstümmelung vielleicht gerechtfertigt, mit der
er seine eigene Schuld zu sühnen versucht. Doch so ist
es nicht. Denn seine höchst unmoralischen Taten sind ihm
nicht einmal bewusst zu dem Zeitpunkt, als er sie
ausführt.
Wer
ist es dann? Sophokles lässt keinen Zweifel daran, dass
hier Gott Apollo höchstpersönlich als „Täter“ seine
Hände mit im Spiel hat. Und dass die tückischen Fallen,
in die Ödipus wiederholt hineintappt, durch ein von
göttlicher Vorsehung inszeniertes Fatum ausgelegt
wurden. Und somit zu einem in sich widersprüchlichen
Szenario führen. Zu einem tragischen Handlungsstrang, an
dem die Bitten des christlichen Vaterunsers um Geschehen
des göttlichen Willens und Vergebung der individuellen
Schuld wegen ihres unterschiedlichen Gottesbildes
zweifellos scheitern müssten. Ebenso die moderne
Überzeugung, dass es ohne individuelle Schuld auch keine
Strafe geben dürfe.
Tragische Figur
Dennoch hat sich der englische Komponist Julian Anderson
in seiner Oper „Thebans“ des Ödipus-Stoffes angenommen.
Und nach dem Libretto von Frank McGuinness in eine
anrührende Musiksprache übersetzt, deren Dramatik das
Beethoven Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung
von Johannes Pell von einfühlsam bis furios in all ihren
Schattierungen intensiv auskostet.
Auch
die in Kooperation mit der English National Opera in
London erfolgte Inszenierung von Pierre Audi arbeitet
die spannungsgeladenen Erzählstränge der drei Akte
überzeugend heraus. Und bietet damit allen am
Bühnengeschehen beteiligten Interpreten einen
angemessenen Rahmen.(Bühnenbild: Tom Pye, Kostüme:
Christof Hetzer) Allen voran Ödipus, König von Theben
(William Dazeley), der den in seiner Person vereinten
Widerspruch von Täter- und Opferrolle überzeugend zum
Ausdruck bringt. Bis hin zum bitteren Ende, an dem Zeus
ihn als tragische Figur in das Reich der Toten abberuft.
Gebot contra Verbot
Und
ihn damit aus den Armen seiner Tochter Antigone
(hervorragend: Yannick-Muriel Noah) herausreißt, die
sich als Schlüsselfigur nicht nur für ihren geliebten
Vater verantwortlich weiß. Sondern darüber hinaus auch
für ihren Bruder Polynices (Giorgos Kanaris), mit dessen
symbolischem Begräbnis sie zwar einem göttlichen Gebot
Folge leistet, sich damit aber gleichzeitig über ein
menschliches Verbot hinwegsetzt.
Für
Letzteres steht König Creon (Peter Hoare), der für Recht
und Ordnung sorgende und doch skrupellose Nachfolger des
Ödipus auf dem thebanischen Königsthron. Er hat seine
wunderbar kämpferischen Auftritte in der
Auseinandersetzung nicht nur mit der ungehorsamen
Antigone. Sondern selbst mit seinem eigenen Sohn Haemon
(Christian Georg), der ihn mit Leidenschaft von seiner
selbst auferlegten Sturheit abbringen will, an der er
dann aber doch, ebenso wie Antigone, scheitern muss.
Erkenne Dich selbst
Als
Blinder Seher Tiresias bringt Rolf Bromann (warum in
Frauenkleidung ?) beschwörend seinen sonoren Bass zum
Einsatz. Ohne jedoch verhindern zu können, dass sich
Königin Iocasta (Anjara I. Bartz) als Mutter und
zugleich Ehefrau des Ödipus in ihrer Verzweiflung auf
unwürdige Weise das Leben nimmt. In den Nebenrollen
überzeugen auch Theseus (Jakob Huppmann), der Shepherd
(Nicholas Probst) und Eteocles (Olaf Reinecke). Und
nicht zuletzt ist es der Chor des Theaters Bonn
(Einstudierung: Volkmar Olbrich), der in anspruchsvollen
Partien das dramatische Geschehen kommentiert. Eine
besondere Leistung, die beiträgt zum lang anhaltenden
Schlussapplaus.
Und
dennoch stellt sich abschließend die Frage, was jenseits
des von Sophokles abgesteckten antiken Handlungsrahmens
für die Gegenwart übrig bleibt. Ist es die Aufforderung,
sich selbst zu erkennen, auch wenn die aus dieser
Selbsterkenntnis erwachsenden Konsequenzen nicht leicht
zu ertragen sind? Oder ist es die Aufforderung,
Ideologien mit Absolutheitsanspruch kritisch zu
hinterfragen, woher auch immer sie kommen mögen. Denn
dann könnte sich die Menschlichkeit am Ende doch noch
durchsetzen.
Fremd bin ich eingezogen
Schuberts „Winterreise“
in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto:
Thilo Beu
Einsamkeit und Verzweiflung, Wehmut und
Hoffnungslosigkeit. Ergreifend und zu Herzen gehend
durchmisst Schuberts „Winterreise“ mit Texten von
Wilhelm Müller musikalisch alle Stadien einer
kummervollen Wanderschaft. Einer Reise, deren
vorgegebenes Ziel in seiner Endgültigkeit als
unausweichlich erscheint. Vor diesem ernsthaften
existenziellen Hintergrund ist die „Winterreise“ der
sicherlich bekannteste und am meisten anrührende
Liederzyklus der Romantik.
Komponiert für Singstimme und Klavierbegleitung, fordert
sie in der fast 200jährigen Aufführungspraxis durch ihre
Gefühlsintensität geradezu heraus zu alternativen
Interpretationen. Zu Neuaufführungen, die die in dem
Werk angelegte Orientierungslosigkeit mitsamt allem
Liebeskummer durch jeweils unterschiedliche musikalische
Mittel zum Ausdruck bringt. Mit der Neuinszenierung von
Jürgen R. Weber (Konzept, Regie, Ausstattung) reiht sich
die Oper Bonn ein in den Versuch, Schuberts
„Winterreise“, diesmal in Form des Musiktheaters, auf
andere Weise nachvollziehbar zu machen.
Intendierte
Gefühlsregungen
Zurückgreifen kann die Regie dabei auf ein musikalisches
Arrangement von Ekaterina Klewitz (Musikalische Leitung)
für Singstimme (Christian Georg), Chor (Jugendchor des
Theater Bonn), Saxofon (Tobias Rüger), Klavier (Adam
Szmidt), Harfe (Helene Schütz) und Violoncello (Johanna
Zur). Eine völlig neue Zusammenordnung, die jedoch, wie
sich schnell herausstellt, die von Schubert intendierten
Gefühlsregungen auf neue und ungewohnte Weise
hervorzurufen weiß.
So
auch die Regie, die die Liebesbeziehung des einsamen
Wanderers konkrete Gestalt annehmen lässt. Doch dabei
erfährt das jugendliche Liebespaar, das sich per
Computer austauscht, die Umwelt als eine emotional zu
Eis erstarrte Landschaft. Allerdings wird es unterstützt
vom Chor, der einzelne Passagen wie „Der Lindenbaum“
eigenständig übernimmt und dabei schauspielerisch mit
sparsamen Gesten die vom Text zum Ausdruck gebrachten
Gefühle unterstreicht. Wie auch bei der tragischen Figur
des „Leiermanns“, an dessen Hosenbeinen sich in
auswegloser Situation aggressive Straßenhunde zu
schaffen machen.
Intensive szenische
Darstellung
Darf
man Schuberts Liederzyklus, so stellt sich die Frage,
mit den Mitteln des Musiktheaters neu interpretieren?
Man darf! Diese Einschätzung legt sich nahe, wenn man
die von intensiven Bildern geprägte Art der Darstellung
unbefangen auf sich wirken lässt. Unglaublich dicht
gearbeitet die szenische Darstellung des Eingangsstückes
„Gute Nacht“, als der Gedemütigte in seiner
Aufbruchsstimmung aus unerfüllter Liebe heraus noch
einen Gutenachtgruß an der Tür seiner Liebsten
hinterlässt.
Oder
als in „Die Wetterfahne“ die Lieblosigkeit der Umwelt
durch Mobbing verdeutlicht wird. Überzeugend auch „Die
Post“, die mit gleichmäßigen Trommelschlägen auf
rostigen Blechfässern angekündigt wird. Und die doch in
einem Aufschrei tiefsten Herzschmerzes enttäuschen muss,
als der ersehnte Brief einmal mehr auf sich warten
lässt.
Bühne des Lebens
Unglaublich, mit welcher Ernsthaftigkeit der Jugendchor
des Theaters Bonn unter der engagierten Leitung von
Ekaterina Klewitz die ihm zugedachte Aufgabe meistert.
Als ein Klangkörper, dem man die von der Rolle
vorgegebenen Emotionen abnimmt, ohne dabei in der
schauspielerischen Leistung nachzulassen. Bis der vom
„Leiermann“ und dem sensibel musizierenden Saxofon
angeführte Zug, vergleichbar einem mittelalterlichen
Totentanz, die Bühne des Lebens verlässt.
Außer
einigen Wenigen, die sich mit ihrer hellen Kleidung von
der in einem Seitenausgang des Zuschauerraums
verschwindenden Mehrheit abhebt. Um durch ihr
Zurückbleiben doch noch ein Stückchen existenzieller
Hoffnung in dieser von Bitterkeit geprägten Welt zu
verbreiten? Angerührt und konzentriert verfolgt das
Publikum diese Wendung und bedankt sich mit frenetischem
Beifall und stehenden Ovationen für diesen durchweg
gelungenen Premierenabend.
Frauengeschichten
„Hoffmanns Erzählungen“ in der Oper Bonn
Von
Dr. Bernd und Cecilie Kregel
Foto: Thilo Beu
Wenn Hoffmann erzählt, darf er sich
der Aufmerksamkeit seiner Trinkkumpane sicher sein. Geht
es doch um Frauengeschichten, die er, E.T.A. Hoffmann,
selbst aufgeschrieben hat. Und die nun in der
Phantastischen Oper von Jaques Offenbach mit seiner
Biographie ausdrücklich in Verbindung gebracht werden.
Eine vom Librettisten Jules Barbier als höchst explosiv
aufbereitete Mischung aus Traumwelt und Realität.
Veranschaulicht in einer Intensität, dass es auch das
Bonner Premierenpublikum vier Stunden lang auf seinen
Sitzplätzen festhält, bevor es sich in frenetischem
Beifall zu Stehenden Ovationen erhebt.
Vielleicht nicht ganz verwunderlich,
wenn man bedenkt, dass sich das Werk in den letzten
fünfzig Jahren im Opern-Ranking einen beachtlichen 20.
Platz sichern konnte. Und stoßen nicht ein Mann, der
sich in den schönen Schein eines Puppenautomaten
verliebt, eine Frau, die auf merkwürdige Weise an ihrem
eigenen Gesang zugrunde geht sowie eine Kurtisane, die
einem Verehrer listig seinen Schatten raubt, nicht
automatisch auf das Interesse des Publikums?
Aufführungskonzept
Zu erwarten war dies von Anfang an
allerdings nicht. Denn Offenbach verstarb noch vor der
Fertigstellung des Werkes und hinterließ somit auch kein
geschlossenes Aufführungskonzept. Mit der Folge, dass in
vielen neuen „Uraufführungen“ das dem Komponisten
unterstellte Konzept wieder einmal neu in Szene gesetzt
wurde. In einer solchen Variationsbreite, dass die dabei
jeweils auftretenden Widersprüche für sich sprachen.
So fiel dem Duo Renaud Doucet
(Inszenierung) und André Barbe (Bühnenbild, Kostüme) die
anspruchsvolle Aufgabe zu, ein Konzept zu erstellen, das
bei aller thematischen Vielfalt doch ein höchstmögliches
Maß an innerer Geschlossenheit aufweist. Ein Anspruch,
der – wie der Premierenapplaus beweist – bestens von
ihnen eingelöst wurde.
Erzählstränge
Wie Hoffmann wollen auch Doucet und
Barbe Geschichten erzählen. Dazu arbeiten sie die
Erzählstränge der einzelnen Akte deutlich heraus: Wenn
sie die Puppe Olympia in eine illustre Ansammlung von
Menschen nachempfundenen Automaten hineinversetzen. Oder
die bereits vom Tod gezeichnete Antonia in eine
häusliche Eislandschaft verbannen, in der bis ins
Publikum hinein das Blut zu gefrieren scheint. Ganz im
Gegensatz zu der Sinnlichkeit Giuliettas, unter deren
erotischem Einfluss selbst ein Herz aus Stein wie von
selbst dahin schmilzt.
Kontinuität schafft bei alledem mit
ihrem strahlenden Sopran Nette Or, die nicht nur alle
drei Frauenrollen zu singen hat. Sondern dazu auch noch
die der Primadonna Stella, die als Geliebte Hoffmanns
alle drei Rollen in sich vereint. Auch die diabolisch
handelnden Bösewichte Lindorf, Coppelius, Dr. Miracle
und Dapertutto sind trotz ihrer Unterschiedlichkeit bei
Martin Tzonev in einer Person bestens aufgehoben.
Apotheose
Großartig auch Susanne Blattert, die
als Muse vor der zuweilen aussichtslosen Aufgabe steht,
Hoffman vor seiner Liebe zu den Frauen für die
Leidenschaft zur Kunst zu bewahren. Und, fast eine
Sensation, die Entdeckung des jungen Sébastien Guèze für
die nur schwer überschaubare Rolle des Hoffmann. Ein
krankheitsbedingter Ausfall hatte diese Umbesetzung
erforderlich gemacht. So durchmaß sein wunderbar
tragender Tenor brillant alle Höhen und Tiefen des
jeweils unterschiedlichen Stimmungen unterworfenen
Handlungsverlaufs.
Dabei stets unterstützt von einem
unter der zupackenden musikalischen Leitung von Hendrik
Vestmann bestens aufgelegten Beethoven Orchesters Bonn.
Ein Klangkörper, der bis in die Apotheose des 5. Aktes
nicht müde wurde, die dem Stück innewohnende Dramatik
angemessen zum Ausdruck zu bringen. Insgesamt eine
Sternstunde der diesjährigen Bonner Spielzeit.
|