Erlebte Geschichten

 

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Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen

 

Wenn mich der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch - einst Leitbild vieler Journalisten - in meinem langen Journalisten-Leben gesehen hätte, dann würde er sicherlich kopfschüttelnd von sich geben, dass er sich so seine Nachfolger nicht vorgestellt habe: zurückhaltend, lieber in der sechsten Reihe wie in der Ersten stehend!

Ein amerikanischer Journalisten-Kollege, McBuster, schrieb einmal, dass meine Geschichten „hintergründig“, manchmal etwas „laut“, aber überwiegend „leise“ und nicht selten „mit viel Herz“ geschrieben seien. Aber auch der Humor käme nicht zu kurz. 

Erlebte Geschichten, die das Leben schreiben, rangieren ganz oben bei mir. Die große weite Welt ist viele Flugstunden entfernt, aber auch gleich nebenan in der Nachbarschaft wird einiges Interessantes geboten. So wie diese Geschichten und andere, die noch folgen, erzählen. Denn das Leben, liebe Leserinnen und Leser, schreibt die besten Geschichten!

Manfred Rademacher

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Ein Amerikaner in Norwegen zu Gast

 

„Ich liebe Harstad, was sage ich: Ich liebe Norwegen, Skandinavien überhaupt“, meinte der 88-jähriger Harry aus Amerika, schlank und groß, der sich erneut mit einer Zigarette „belohnte“. Seine Glatze spiegelblank. Kahlköpfig sei er deshalb, weil seine grauen Zellen den Haaren die gesamten Nährstoffe entzogen hätten, sagte er lächelnd. Seine Schritte waren gemächlich in seinen ausgelatschten, braunen Schuhen durch die gemütliche, norwegische Stadt Harstad, die drittgrößte Stadt Norwegens, rund 250 Kilometer vom Polarkreis entfernt. Wir staunten nicht schlecht, als wir im Hafen von Harstadt, etwas abseits, auf einem Boot den großen Showmaster Joachim Kuhlenkampff erlebten, der gerade für seinen Bootsmann und sich den Frühstückstisch deckte. Mit einem „wunderschönen guten Morgen“ begrüßten wir ihn. Was zur Folge hatte, dass wir an Bord kommen konnten und mit ihm frühstücken durften. Es war ein nettes Miteinander. Er erzählte von seinen vielen Erlebnissen auf See. Von seiner „großen Leidenschaft“, wie er sie nannte. Rund zwei Stunden hatten wir uns ausgetauscht, oder anders: wir wurden vom sympathischen Kuli unterhalten. Danach hieß es für Kuhlenkampff: Leinen los! Ab nach Schweden.

Harry war sichtlich erfreut. Er strahlte über das ganze Gesicht, denn den Kuli hatte er nur ein paar Mal bei seinem Urlaub in Deutschland auf der Mattscheibe gesehen. Harry ist viel in der Welt herumgekommen. „Ich gehöre zu den Rastlosen, wie die Feder im Wind“, betonte er mit tiefer Stimme. Doch seine „Leichtigkeit in den Beinen“ sei aufgrund seines Alters nicht mehr so wie vor 40 Jahren. Aber dennoch sei sein Grundsatz: „Im Alter muss Du im Herzen jung bleiben, das ist die Kunst des Lebens!“ Er fügte hinzu: „Alle wollen alt werden, aber keiner will es sein!“

Er erzählte von seinen Reisen durch die Welt, von seiner Familie in Texas, die er sehr liebe und auch von seinen Freunden. Hörte man genau hin, dann war auch sein Stammtisch, bei seinen Freunden, seine Heimat. Sein Zuhause sei überall dort, wo er gerade ist, ließ er mich wissen. Harry ist zu manchem Spaß aufgelegt. „Wenn du zufrieden bist und den Humor nicht verlierst, dann wirst du auch nicht so schnell krank, alt und gebrechlich schon gar nicht, das stärkt die Abwehrkräfte“, sprach er mit großer Überzeugung.

In seinem jungen Leben war er ein Mann der Altenpflege. Ich hörte ihm gerne zu, denn seine Erzählungen waren interessant, humorvoll und auch sehr spannend. Verschmitzt schaute er mich an, legte eine Hand auf meine Schulter, und sagte: „Kürzlich hat mich mein Freund zum Stammtisch abgeholt, Manfried. Er sah mich beim Fensterputzen und behauptete, dass ihm das nicht im Traum einfallen würde. Mir auch nicht, habe ich zu ihm gesagt, die Idee stamme von meiner Frau!“ Wir lachten beide. Und gleich danach erzählte er mir von einer älteren Frau, die bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben habe. Der Polizist auf der Wache habe sie gefragt, wie groß denn ihr Mann sei. Ein Meter und sechzig, er habe zuletzt eine blaue Jeans, ein rotes Hemd, braune Schuhe und eine blau-gestreifte Kochschürze, mit der Aufschrift „Ich bin der Größte“, getragen. Dann stellte er mir eine Frage: „Warum fressen denn weiße Schafe mehr als schwarze Schafe?“ Meine Antwort blieb aus. „Ganz einfach“, sagte er, „es gibt mehr weiße Schafe als Schwarze.“

Dieser Mann hatte den Schalk im Nacken, wenn er seine witzigen Sprüche von sich gab, wurden seine Augen zu schlitzen. Er war sehr belesen und hatte manche Weisheit auf Lager. So auch: „Dummheit schützt vor Reichtum nicht!“ Und immer wieder kam der sympathische Amerikaner so richtig von den Norwegerinnen ins Schwärmen und nannte sie seine „Wikingerinnen“. Und überhaupt: Die Menschen seien so freundlich. Dann rasselte er wie von einer Duden-CD seine angelesenen Weisheiten des Hohen Nordens runter und klärte mich auf: „Die Bewohner Skandinaviens, suchten im 8. bis 11. Jahrhundert als Seeräuber, Kaufleute, Staatengründer die Küsten Europas heim. Sie eroberten 1066 England (Wilhelm der Eroberer) und gründeten das Reich Neapel-Sizilien. Von Island kamen sie nach Grönland.“ Ich war begeistert und sehr beeindruckt von seinen Kenntnissen. Auch eine riesige Begeisterung bei ihm von der herrlichen Natur Norwegens, dem tausendfachen Grün, den Bergen und nicht zuletzt von der guten Küche in den Restaurants.

Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, an einer kleinen Apotheke ließ die Wärme die Quecksilbersäule des Thermometrs auf 20 Grad Celsius klettern. Es war Mitte Juni. Wenige Schritte weiter, ein kleines Restaurant, das wir besuchten. Der Koch mit weißer Kochmütze im Fischrestaurant, schaute mit seiner gigantischen Leibesfülle und seinem gewaltigen, runden Kopf aus der kleinen Tür, als wolle er nachschauen, ob denn seine Gäste alles das aufessen, was er für sie gekocht und gebraten habe. Der Koch lächelte und grüßte laut: „Hi, Harry, geht es gut?“ Harry nickte und rief: „Sehr gut, Sven! Schmeckt wieder prima.“

Seine große Begeisterung von dem schönen Norwegen, mit den tollen, freundlichen Menschen, nahm kein Ende. Leider fehle ihm die Zeit und auch das Geld, um das ganze Land in aller Ruhe zu bereisen, von Oslo bis Hammerfest, so auch noch nach Finnland, betonte er. „Aber in zehn Jahren komme ich wieder, zusammen mit meiner Frau“, so war vom 88-Jährigen zu hören.“

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Samy, ein Freund aller Menschen

 

Die Sonne stieg am Horizont als runder, gelbroter Feuerball auf und spiegelte sich in den Fensterscheiben der kleinen Häuser in El Paso, in Texas, nahe der Stadt Juárez, im Norden Mexikos, im Bundesstaat Chihuahua am Rio Grande, wieder.

Vor dem Haus 17 stand ein alter Korbsessel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Es war sechs Uhr morgens. Unendlich friedlich lag der Ort in der aufsteigenden Sonne. Zögernd strich säuselnd ein leichter, kaum spürsamer Wind durch die Baumkronen, noch ein wenig steif von der kühlen Nacht. Auf der Straße, die noch den Abfall der Nacht trug, lief ein kleiner, schwarzhaariger Hund mit dem Schwanz wedelnd, als habe er eben erst zu seinem großen Glück eine große Fleischwurst vertilgt.

Ein Radiosender begrüßt seine Hörer im besten Texaner-Slang: „Hi, Welt! Heute schon gelebt?“ Der Moderator Jo verspricht einen heißen Tag. Er prophezeit, dass die Quecksilbersäule gegen Mittag auf 42 Grad klettern würde.

Gemächlich trat ein alter Mann vor die Tür, schloss seine Augen und streckte seine beiden Arme für einige Minuten nach oben, als wollte er seine morgendliche Gymnastik zur Schau stellen. Stand ganz still, öffnete seinen schmalen Mund wie ein Fisch der nach Luft schnappt und turnt innerlich. Drei Schritte nimmt er behutsam in seinem Korbsessel platz, schiebt sich seinen Sombrero ins Gesicht und nestelt eine Tüte mit Brotresten aus der Hosentasche. „Hi, Samy,“ ruft ihm eine Mittfünfzigerin aus der Nachbarschaft zu und joggt an ihm vorbei. „Hi, Barbara,“ erwidert er, ohne aufzuschauen. Seine treue kleine Katze schmiegt sich an ihn, schnurrt leise und genießt die Brotreste wie ein Festtagsschmaus. Plötzlich taucht eine große, braune Katze auf, ziemlich ausgemergelt, struppiges Fell, sie versucht den einen oder anderen Brothappen zu erhaschen. Samy stampft mehrmals mit beiden Füßen auf und brüllte in die Stille: „Go away!“ Erschrocken versteckt sie sich hinter einem Busch schaut der anderen Katze beim Kauen zu und schien sich zu fragen, warum ihr Hunger weniger gilt als der der kleinen Katze. Nur weil sie größer sei und ein struppiges Fell habe? Aber der Hunger bleibe doch gleich!

Der nächste Morgen verläuft ähnlich. Barbara begrüßt Samy freundlich. Er füttert liebevoll sein kleines Kätzchen. Samy sitzt am Abend noch immer vor der Haustür, sein ein wenig ins Alter gekommener Sombrero verdeckte sein Gesicht. Er rührte sich nicht. Es schien, als wolle sein Mittagsschlaf kein Ende finden.

Der nächste Tag versprach wieder Sonnenschein mit hohen Temperaturen. Die Sonne verabschiedet sich mit kräftigem Rot am Horizont. Über der Wüste von Texas flimmert das Licht. Am darauffolgenden Tag blieb der Korbsessel leer, weit und breit war kein Kätzchen zu sehen. Nur die ausgemergelte Katze sitzt zwei Schritte vor Samys Korbsessel und wartet.

Am dritten Tag joggt Barbara wieder an Samys Haus vorbei. Der Korbsessel war verschwunden, die Vorhänge zugezogen, der alte Mann, der viele Jahre zum Straßenbild von El Paso gehörte, wurde nie mehr gesehen.

Wie hat einmal der große Dichter Peter Rosegger in seinem bekannten Gedicht geschrieben: „Meine Lust ist leben“. Im dritten Vers heißt es: „Wie man abends Kinder ernst zu Bette ruft, führt der Herr mich schweigend in die dunkle Gruft. Meine Lust ist leben, doch sein Will' gescheh', dass ich schlafen geh'.“

 

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